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Wir alle hatten uns auf dieses Lager - für
viele die erste mehrtägige Reise - seit langem
gefreut; ein Zeltlager im sonnigen Tessin und,
wie man uns gesagt hatte, direkt am See. In
der damaligen Zeit war das für einen Jungen
in meinem Alter das höchste der Gefühle.
Die Eisenbahnfahrt von Trübbach ins Tes
sin habe ich noch in deutlicher Erinnerung.
Der Pfarrer war wie immer sehr aufgeräumt
und unterhielt die ganze Gruppe nicht nur mit
Humor und Witzen, sondern auch dadurch,
dass er an Gepäckträgern des Waggons seine
Turnkünste zeigte. Das beeindruckte uns na
türlich mindestens so sehr wie eine Predigt.
In Locarno angekommen, fuhr man mit dem
Schiff nach Vira auf der gegenüberliegen
den Seite des Lago Maggiore. Dort begann
der Pfarrer mit den grösseren Ministranten
auf einer kleinen Wiese unterhalb des Orts
zentrums, direkt am See, sogleich mit dem
Aufstellen der Zelte. Auf dem Platz lag auch
ein altes und in seine Einzelteile zerfallenes
Schiff. Dessen lose Bretter dienten uns Jün
geren zum Spielen am Seeufer. Das Wasser
war ruhig und wurde nur hin und wieder
durch vorbeifahrende Schiffe etwas bewegt.
Der eigentliche Hergang des Unglücks ist
im eingangs zitierten Zeitungsartikel be
schrieben. Ich sehe heute noch vor mir, wie
Hans versank, dann Georg, der Hans bereits
auf den Schultern trug, und wie Pfarrer
Waser in seinem grauen Arbeitskittel und
im Anzug über die Ufermauer in den See
sprang. Alle drei blieben verschwunden und
tauchten nicht mehr auf.
Bei uns Ministranten und bei der Pfarr-
köchin herrschten Hilflosigkeit, Entsetzen
und Panik. Ich kann mich erinnern, wie
Taucher Pfarrer Waser als Ersten an Land
brachten. Dann wurden wir von Einheimi
schen in ein benachbartes Restaurant ge
bracht, verpflegt und während des ganzen
Tages betreut. Man sagte uns vorerst, der
Herr Pfarrer, Georg und Hans würden sich
im Spital in Locarno befinden.
Den Abend verbrachten wir auf der Terrasse
vor der Kirche von Vira und sahen uns die
Feuerwerke des Schweizer Nationalfeierta
ges rund um den See an - schweigend und in
Gedanken versunken. In Vira selbst war die
1 .-August-Feier abgesagt worden. Im Laufe
der Nacht wurden wir in einem Bus abge
holt und nach Hause gefahren. Ich glaube
nicht, dass auch nur ein Einziger trotz der
Müdigkeit schlafen konnte. Zu stark und zu
schrecklich waren die Erlebnisse.
Als ich am Morgen gegen 6 Uhr in unserem
Haus an der Fürstenstrasse eintraf, begannen
die Kirchenglocken zu läuten, und ich sah von
unserer Küche aus, wie man die drei Särge
in die Kirche hineintrug. Erst da wusste ich,
was tatsächlich geschehen war. Meine Mut
ter hatte es schon gehört, ich wollte es ihr
aber in einem ersten Gespräch nicht glau
ben. Sehr viel stürmte auf uns ein: der Tod
eines von uns verehrten Pfarrers, der Tod
von Georg, der für uns Jüngere durch seine
ruhige, zurückhaltende und bestimmte Art
ein vorbildlicher Oberministrant war, und
der Tod von Hans, den ich als immer fröhli
chen und unternehmungslustigen Kamera
den in Erinnerung behalten habe.
Der 1. August 1955 gehört also in besonderer
Weise zu meinem Leben, wie er dies auch für
viele andere in Balzers tut. Nach dem Tod von
Pfarrer Arnold Waser gab es verschiedene
Deutungen, die besagten, dass er seinen frühen
Tod vorausgesagt hätte, etwa durch Hinwei
se, dass er nicht länger als sieben Jahre Pfar
rer in Balzers sei. Der Tod unter diesen be
sonders tragischen Umständen machte aus
einem beliebten Seelsorger - wie auch aus
der damaligen Berichterstattung hervor
geht - einen Hirten, der sein Leben hingab
für seine Schafe, wodurch die Erinnerung
an ihn in Balzers lebendig geblieben ist.