Volltext: Balzner Neujahrsblätter (2004) (2004)

Bürgerkultur: Zukunft des Dorfes 
Eckart Prahm 
Klar gibt es Zäune im Dorf, 
überschaubare. 
Jeder weiss alles von jedem: 
Sein Grossvater war ein Trinker, 
die Mutter hungrig vor Geiz. 
Der Daniel hat früh schon gestohlen, 
kaum vierzig Jahre sind es her. 
Katharina Adler (geh. 1919 in Waldsee 
bei Speyer) beschreibt ihr Allgäuer 
Dorf, in dem sie seit 1957 lebt, mit 
«äusserster Konzentration», mit «Witz 
und Hintersinn». Die grossstädtische 
Wochenzeitung «Die Zeit» (Hamburg) 
stufte ihre literarischen «Mitteilungen 
aus dem Allgäu» (1985) als «merkwür 
dig poetisches Opus» ein und erkannte: 
«Sie eröffnet damit Tore in die Philoso 
phie.» Tatsächlich sind die zitierten 
Verse zunächst einmal eine exakte Be 
schreibung der dörflichen Gemein 
schaft, wie sie von Sozial- und Kultur 
wissenschaftlern im Grunde nicht viel 
genauer angefertigt wird. Die oft be 
schworene Überschaubarkeit und Ge 
borgenheit ist das Ergebnis einer rigo 
rosen Kontrolle, und zwar um dörfli 
ches Überleben in gemeinschaftlichen 
Verbänden (Verwandtschaft) überhaupt 
möglich zu machen. Das gegenseitige 
«Belauern» hat(te) einen schlichten hu 
manen Hintersinn - und das schliesst 
ein, Verantwortung für den anderen zu 
übernehmen, in schwierigen Situatio 
nen selbstverständlich Beistand und 
Hilfe zu leisten. 
Das Dorf - Gemeinschaft 
oder Auflösung? 
Wer grundsätzliche Entwicklungen 
des typischen Dorfes skizzieren will, 
geht zumeist von einer solchen Dorf- 
gemeinschaft aus, deren Zukunft - 
und da sind sich Wissenschaftler und 
Politiker nicht selten einig - nur 
durch den Rückgriff auf die allmäh 
lich verschwindende Vergangenheit 
gestaltet werden kann. Ob aber das 
zukünftige Dorfleben in einer unüber 
sichtlicher werdenden Welt (Stich 
wort: Globalisierung) tatsächlich vor 
allem von der Tradition bestimmt 
wird, ob man also am besten, ja auto 
matisch, zu den Wurzeln zurückge 
hen soll, oder ob man das Dorf und 
seine Grenzen nicht eher als mar- 
ginalisierte und überholte Rückstän 
digkeit angesichts des allgemeinen ge 
sellschaftlichen, ökonomischen und 
kommunikativen Wandels ansieht, 
um dann daraus möglichst schnell 
und radikal die Umbau- oder Auf 
lösungskonsequenzen zu ziehen, bei 
de Auffassungen - Wurzelgründung 
als auch Auflösung - hängen davon 
ab, was man in das Dorf und den 
ländlichen Raum insgesamt «hinein»- 
sieht. Doch zwischen Projektion, 
Wunschbildern und genauer Be 
schreibung des Dorfes gibt es keine 
einfachen Unterschiede, sondern viel 
fach Überschneidungen. Man sollte 
daher jeweils nach den Interessen und 
dem Blickwinkel fragen, die einer 
Dorfanalyse zugrunde hegen. 
«Nichts geschieht in der Stadt, alles 
geschieht auf dem Land. Die Stadt er 
zählt nur, was auf dem Land gesche 
hen ist, es ist bereits auf dem Land 
geschehen.» Diese beiden Sätze von 
Gertrude Stein verströmen geradezu 
Gewissheit und Gelassenheit; sie un 
terstützen in unseren Köpfen den au 
tomatischen Reflex, bei «Stadt» im 
mer zugleich «Land» mitzudenken. 
Da kommt ein solches Zitat gerade 
recht, zumal es sich bei Gertrude 
Stein (1874-1946) um eine amerikani 
sche Intellektuelle handelt, die im Pa 
ris der zwanziger Jahre als weitläufige 
Literatin eine grosse Anregerin war 
und als «Mutter der Moderne» gefei 
ert wurde. Angesichts des gegenwärti 
gen Trends, wieder häufiger mit 
feuchten Augen von den Wurzeln zu 
reden, die man angeblich auf dem 
Land hat (auch wenn da nur eine 
Grossmutter wohnt, die man ganz sel 
ten besucht), oder zu schwärmen vom 
einfachen Leben auf dem Lande und 
den tiefen Werten einer Gemein 
schaftskultur mit der Nähe zur Natur, 
der Ressourcenschonung, der intak 
ten Nachbarschaft und gegenseitigen 
Hilfe, ganz zu schweigen von den 
Märchen und Volksliedern, die der 
einfache Landmann seiner nicht min 
der schlichten Frau am Feierabend 
auf der kleinen Bank vorm Haus als 
eigene Erfindung vorträgt ... Ange 
sichts dieses gefühlig-schwammigen 
und nur schwer greifbaren Trends 
scheint die grossstädtisch geprägte 
Gertrude Stein eine eher unverdächti 
ge Zeugin mit ihrem Urteil über den 
wahren Wert eines Lebens auf dem 
Lande. 
Sieht man jedoch genauer hin, so 
zeigt sich auch in diesen beiden 
scheinbar so nüchternen Sätzen ein 
zeit- und gesellschaftsabhängiges 
Werturteil, gefällt in der Distanz zu 
Paris, formuliert als bewusstes Kont 
rastprogramm in einer ländlichen 
Sommerfrische im Frankreich der 
zwanziger Jahre. Das Dorf (und vol 
lends die Dorfgemeinschaft) als Grund 
lage der gesamten Gesellschaft ist im 
deutschsprachigen Raum eine Erfin 
dung des frühen 19. Jahrhunderts: Die 
Umbruchzeit der beginnenden Indus 
trialisierung, die Herausbildung einer 
parlamentarisch-demokratischen Herr 
schaftsform war eine «Schwebelage 
zwischen nicht mehr und noch nicht» 
(der Soziologe Niklas Luhmann). Man 
entwarf als Kontrast zu einer ausei 
nander strebenden Gesellschaft die 
Fiktion einer klassenlosen Gemein 
schaft als solide Basis der moderner 
werdenden Staaten; und man bezog 
auch auf diese den grundlegenden 
Wert verhaltensregulierender Nor 
men und Traditionen und einer Kul 
tur, die gemeinschaftsprägenden Sinn 
vermittelt. 
«Unbeschriebene Fläche» 
Nach meinen Erfahrungen seit 1977 
(zunächst mit einem Modelldorf der
	        

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