Volltext: Balzner Neujahrsblätter (2004) (2004)

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Am Nachmittag, nachdem sein Werk 
vollendet war, setzte sich Gäbe auf ei 
nen seiner schnellsten «Kohle», blick 
te noch einmal auf den Platz, die Pfer 
de und den Jungen und trabte dem 
Wald entgegen. Was hatte der Fuhr 
mann nur vor? Der Junge sass war 
tend auf einem der Pferde, die alle in 
einer Reihe auf dem offenen Felde 
standen. Nichts geschah. Gespannte 
Stille herrschte auf dem Feld. Kein 
Windstoss war zu spüren, kein Vogel 
in der Luft zu sehen. Was würde wohl 
geschehen? Für den Jungen war das 
lange Warten fast unerträglich, und 
die Zeit schien stillzustehen. 
Plötzlich hörte der Junge krachendes 
Holz, das Poltern von Steinen und ein 
schreckliches Gebrüll. Zwischen die 
sen Geräuschen vernahm er Gäbes 
Stimme, dessen Worte er jedoch nicht 
verstehen konnte. Es war mehr ein 
verzweifeltes Schreien. Dann erscholl 
von neuem dieses Mark und Bein 
durchdringende Brüllen. Mit der 
Angst im Nacken preschte Gäbe, tief 
über die Mähne geduckt, auf seinem 
treuen Tier aus dem Wald. Sein Pferd 
lief, was es laufen konnte und schleu 
derte bei jedem Schritt die Erde mit 
seinen Hufen davon - das fürchterli 
che, sich echsenartig bewegende Tier 
hinterher. Keiner wusste in dem Mo 
ment, wer dieses Rennen auf Leben 
und Tod gewinnen würde. Ob Gäbes 
Rechnung wohl aufgehen würde? 
Fünfzig Schritte vor den aufgereihten 
und immer nervöser stampfenden 
Pferden rief Gäbe mit der ganzen 
Kraft seiner Stimme. Das war das Sig 
nal für den Jungen, jetzt alle sieben 
Pferde anzuspornen. Noch ein schar 
fer Pfiff zwischen zwei Fingern aus 
Gäbes Mund, und die Pferde bängten 
sich in die Riemen und Stricke, die 
Gäbe um ihre mächtigen Leiber ge 
bunden hatte. Sogleich hob sich die 
schwere Lanzenfalle, die Gäbe in den 
vergangenen Tagen aus den Lärchen 
stämmen gefertigt hatte, aus der Tar 
nung - eine Falle für den Drachen, der 
aus lauter Fressgier sein nahes Ende 
nicht zu erwarten schien. Gäbes Pfer 
de hatten das schwere, spitze Gatter 
gerade soweit angehoben, um den 
Lindwurm genau auf Brusthöhe auf 
laufen zu lassen. Zwei der Pfähle 
bohrten sich tief in den Leib des Un 
tiers. Der Aufprall des Lindwurms 
war dermassen druckvoll, dass die 
Lärchenstämme splitternd entzwei 
krachten. Das Blut des Monsters 
spritzte förmlich aus dessen massi 
gem Körper und färbte Pfähle und 
Erde rot. Mit einem röchelnden Brül 
len verendete das schreckliche Tier 
genau an der Stelle, an der es Gäbes 
Pferde getötet hatte. 
Der Plan, das Ungeheuer zu erlegen, 
hatte funktioniert! Ein paar Sekun 
den lang legte sich Gäbe über den 
Nacken seines Pferdes, um sich zu 
vergewissern, dass alles der Wirklich 
keit entsprach, was er da sah. 
Die Heldentat, die Gäbe zusammen mit 
seinem Zögling vollbracht hat, wird 
von den Dorfbewohnern nicht ver 
dankt. Im Gegenteil! Der Junge wird 
von seinem Ziehvater halbtot geprügelt. 
Gäbe nimmt fürchterliche Rache an 
dem Rohling und bricht ihm das 
Kreuz. 
Die Dorfbewohner brennen ihm im Ge 
genzug das Haus ab, und er ist gezwun 
gen, für sich und seinen jungen Schütz 
ling eine neue Bleibe zu suchen. Diese 
finden sie in der Drachenhöhle, die 
auch den verbliebenen Pferden genug 
Raum lässt. 
Nun sind die beiden endgültig aus der 
Dorfgemeinschaft ausgestossen. Gäbe 
wird zum Räuber, der sich an den Leu 
ten im Dorf, den umherziehenden 
Händlern und an der Rheinfähre schad 
los hält. 
Schliesslich aber überkommt ihn Reue. 
Er will seine Untaten sühnen. Die Idee 
kommt ihm während eines Aufenthalts 
im Alten Steinbruch. 
Er wollte etwas aus diesen Steinen 
bauen. Die einsamen Tage in der Höh 
le hatten ihm ja Zeit genug gelassen, 
um zu überlegen, was er, ausser Steh 
len, in seinem Alter noch machen 
könnte. Gäbe war einfach zu viel 
Mensch, um als gefürchteter Pirat 
und Räuber sein Leben fortzusetzen 
und zu beenden. 
Gäbe und der Junge kehrten in ihre 
Behausung zurück, die sie nun schon 
zwei Winter lang bewohnten. In der 
Höhle versuchte er, dem Jungen sei 
nen Plan zu erklären. Er zeichnete auf 
dem sandigen Erdboden eine Skizze. 
Beim genaueren Hinsehen konnte 
man deutlich ein Haus erkennen, das 
mit einem Turm versehen war. 
Die beiden Pferde, die ihnen noch ge 
blieben waren, benutzten sie für den 
Transport des Baumaterials, das sie 
brauchten. In der verfallenen Bau 
baracke fanden sie Werkzeuge und 
Seile - alles was brauchbar war, um 
die Steine zu bearbeiten und zu verla 
den. An einer geeigneten Stelle auf 
freiem Feld gruben die beiden den 
Aushub für das Fundament. Eine 
schwere Fuhre Steine nach der ande 
ren wurde in tagelanger Arbeit herbei 
geschafft. 
Ihr Unternehmen war natürlich nicht 
geheim geblieben. Schon seit Tagen 
wurden sie von den Dorfbewohnern 
argwöhnisch beobachtet. Besonders 
Senz, die schon sehr früh durch einen 
Unfall ihren Mann im Steinbruch ver 
loren hatte, schaute den beiden neu 
gierig zu, wie sie täglich Steine ab 
transportierten. 
Eines Tages betrat Senz mutig die 
Baustelle. Es dauerte eine Weile, bis 
ein Gespräch entstand. Dann aber un 
terhielt sich Gäbe lange mit der Frau, 
die - ähnlich wie er - vieles im Leben 
hatte erdulden müssen. 
Schliesslich kehrte Senz ins Dorf zu 
rück und berichtete, was sie von Gäbe 
erfahren hatte. Nur zögernd wollten 
die Leute glauben, was sie ihnen er 
zählte. Am folgenden Tag kehrte sie 
zur Baustelle zurück und brachte 
Gäbe und dem Jungen etwas zu essen 
und zu trinken. Senz machte sich 
stark für das Vorhaben der beiden 
und brachte schliesslich die Dorfbe 
wohner dazu, sie bei ihrer Arbeit zu 
unterstützen. 
Zögernd zwar, aber von Tag zu Tag 
immer deutlicher, entstand Vertrauen 
in Gäbe und sein Vorhaben, und nach 
einem Jahr war in gemeinsamer Ar 
beit eine Muttergottes-Kapelle ent 
standen. Sie sollte den Dank dafür 
ausdrücken, dass der Lindwurm ver 
nichtet war, aber auch, dass die Leute 
im Dorf ihre Menschlichkeit wieder 
gefunden hatten.
	        

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