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Am Nachmittag, nachdem sein Werk
vollendet war, setzte sich Gäbe auf ei
nen seiner schnellsten «Kohle», blick
te noch einmal auf den Platz, die Pfer
de und den Jungen und trabte dem
Wald entgegen. Was hatte der Fuhr
mann nur vor? Der Junge sass war
tend auf einem der Pferde, die alle in
einer Reihe auf dem offenen Felde
standen. Nichts geschah. Gespannte
Stille herrschte auf dem Feld. Kein
Windstoss war zu spüren, kein Vogel
in der Luft zu sehen. Was würde wohl
geschehen? Für den Jungen war das
lange Warten fast unerträglich, und
die Zeit schien stillzustehen.
Plötzlich hörte der Junge krachendes
Holz, das Poltern von Steinen und ein
schreckliches Gebrüll. Zwischen die
sen Geräuschen vernahm er Gäbes
Stimme, dessen Worte er jedoch nicht
verstehen konnte. Es war mehr ein
verzweifeltes Schreien. Dann erscholl
von neuem dieses Mark und Bein
durchdringende Brüllen. Mit der
Angst im Nacken preschte Gäbe, tief
über die Mähne geduckt, auf seinem
treuen Tier aus dem Wald. Sein Pferd
lief, was es laufen konnte und schleu
derte bei jedem Schritt die Erde mit
seinen Hufen davon - das fürchterli
che, sich echsenartig bewegende Tier
hinterher. Keiner wusste in dem Mo
ment, wer dieses Rennen auf Leben
und Tod gewinnen würde. Ob Gäbes
Rechnung wohl aufgehen würde?
Fünfzig Schritte vor den aufgereihten
und immer nervöser stampfenden
Pferden rief Gäbe mit der ganzen
Kraft seiner Stimme. Das war das Sig
nal für den Jungen, jetzt alle sieben
Pferde anzuspornen. Noch ein schar
fer Pfiff zwischen zwei Fingern aus
Gäbes Mund, und die Pferde bängten
sich in die Riemen und Stricke, die
Gäbe um ihre mächtigen Leiber ge
bunden hatte. Sogleich hob sich die
schwere Lanzenfalle, die Gäbe in den
vergangenen Tagen aus den Lärchen
stämmen gefertigt hatte, aus der Tar
nung - eine Falle für den Drachen, der
aus lauter Fressgier sein nahes Ende
nicht zu erwarten schien. Gäbes Pfer
de hatten das schwere, spitze Gatter
gerade soweit angehoben, um den
Lindwurm genau auf Brusthöhe auf
laufen zu lassen. Zwei der Pfähle
bohrten sich tief in den Leib des Un
tiers. Der Aufprall des Lindwurms
war dermassen druckvoll, dass die
Lärchenstämme splitternd entzwei
krachten. Das Blut des Monsters
spritzte förmlich aus dessen massi
gem Körper und färbte Pfähle und
Erde rot. Mit einem röchelnden Brül
len verendete das schreckliche Tier
genau an der Stelle, an der es Gäbes
Pferde getötet hatte.
Der Plan, das Ungeheuer zu erlegen,
hatte funktioniert! Ein paar Sekun
den lang legte sich Gäbe über den
Nacken seines Pferdes, um sich zu
vergewissern, dass alles der Wirklich
keit entsprach, was er da sah.
Die Heldentat, die Gäbe zusammen mit
seinem Zögling vollbracht hat, wird
von den Dorfbewohnern nicht ver
dankt. Im Gegenteil! Der Junge wird
von seinem Ziehvater halbtot geprügelt.
Gäbe nimmt fürchterliche Rache an
dem Rohling und bricht ihm das
Kreuz.
Die Dorfbewohner brennen ihm im Ge
genzug das Haus ab, und er ist gezwun
gen, für sich und seinen jungen Schütz
ling eine neue Bleibe zu suchen. Diese
finden sie in der Drachenhöhle, die
auch den verbliebenen Pferden genug
Raum lässt.
Nun sind die beiden endgültig aus der
Dorfgemeinschaft ausgestossen. Gäbe
wird zum Räuber, der sich an den Leu
ten im Dorf, den umherziehenden
Händlern und an der Rheinfähre schad
los hält.
Schliesslich aber überkommt ihn Reue.
Er will seine Untaten sühnen. Die Idee
kommt ihm während eines Aufenthalts
im Alten Steinbruch.
Er wollte etwas aus diesen Steinen
bauen. Die einsamen Tage in der Höh
le hatten ihm ja Zeit genug gelassen,
um zu überlegen, was er, ausser Steh
len, in seinem Alter noch machen
könnte. Gäbe war einfach zu viel
Mensch, um als gefürchteter Pirat
und Räuber sein Leben fortzusetzen
und zu beenden.
Gäbe und der Junge kehrten in ihre
Behausung zurück, die sie nun schon
zwei Winter lang bewohnten. In der
Höhle versuchte er, dem Jungen sei
nen Plan zu erklären. Er zeichnete auf
dem sandigen Erdboden eine Skizze.
Beim genaueren Hinsehen konnte
man deutlich ein Haus erkennen, das
mit einem Turm versehen war.
Die beiden Pferde, die ihnen noch ge
blieben waren, benutzten sie für den
Transport des Baumaterials, das sie
brauchten. In der verfallenen Bau
baracke fanden sie Werkzeuge und
Seile - alles was brauchbar war, um
die Steine zu bearbeiten und zu verla
den. An einer geeigneten Stelle auf
freiem Feld gruben die beiden den
Aushub für das Fundament. Eine
schwere Fuhre Steine nach der ande
ren wurde in tagelanger Arbeit herbei
geschafft.
Ihr Unternehmen war natürlich nicht
geheim geblieben. Schon seit Tagen
wurden sie von den Dorfbewohnern
argwöhnisch beobachtet. Besonders
Senz, die schon sehr früh durch einen
Unfall ihren Mann im Steinbruch ver
loren hatte, schaute den beiden neu
gierig zu, wie sie täglich Steine ab
transportierten.
Eines Tages betrat Senz mutig die
Baustelle. Es dauerte eine Weile, bis
ein Gespräch entstand. Dann aber un
terhielt sich Gäbe lange mit der Frau,
die - ähnlich wie er - vieles im Leben
hatte erdulden müssen.
Schliesslich kehrte Senz ins Dorf zu
rück und berichtete, was sie von Gäbe
erfahren hatte. Nur zögernd wollten
die Leute glauben, was sie ihnen er
zählte. Am folgenden Tag kehrte sie
zur Baustelle zurück und brachte
Gäbe und dem Jungen etwas zu essen
und zu trinken. Senz machte sich
stark für das Vorhaben der beiden
und brachte schliesslich die Dorfbe
wohner dazu, sie bei ihrer Arbeit zu
unterstützen.
Zögernd zwar, aber von Tag zu Tag
immer deutlicher, entstand Vertrauen
in Gäbe und sein Vorhaben, und nach
einem Jahr war in gemeinsamer Ar
beit eine Muttergottes-Kapelle ent
standen. Sie sollte den Dank dafür
ausdrücken, dass der Lindwurm ver
nichtet war, aber auch, dass die Leute
im Dorf ihre Menschlichkeit wieder
gefunden hatten.