Volltext: Balzner Neujahrsblätter (2004) (2004)

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gemeine Bezeichnung bekannt ist, die 
das Gegenteil, also eine Abgrenzung 
«nach unten», benennt. 
In Wien hatte ich mich daran ge 
wöhnt, nur für mich allein zu stehen. 
Es genügte, mich mit meinem Vor- 
und Nachnamen vorzustellen. Das än 
derte sich jedoch wieder, als ich nach 
Liechtenstein zurückkam. Sowohl bei 
der Wohnungs- als auch bei der 
Arbeitssuche wurde ich nach meiner 
Familie gefragt. 
Einmal sollte ich über die alten Ge 
genstände der Gemeinde Balzers spre 
chen. Nachdem mein Name genannt 
war, begann unter den Zuhörern (aus 
ganz Liechtenstein) ein «Werweis- 
sen», wer ich sei, d. h. aus welcher Fa 
milie ich käme. Ich hörte fasziniert 
den komplizierten Ausführungen zu, 
denen ich nicht immer folgen konnte. 
Als jeder Bescheid wusste, wurde es 
still. Ich konnte beginnen. 
Bei einer Einladung stellte mich mei 
ne Freundin einem Liechtensteiner 
«nur» mit meinem Namen vor. Der 
Mann schwieg und überlegte. Mein 
Name sagte ihm ganz und gar nichts. 
So fragte er mich einfach nach meiner 
Familie. Damals habe ich mich geär 
gert, dass ich nicht als Person zählte, 
sondern nur als Mitglied einer Fami 
lie, die - wie jede Familie - mit einer 
Reihe von mündlich tradierten Eigen 
schaften in der Gesellschaft dasteht. 
Heute verstehe ich, dass die Frage 
nach der Familie nicht nur mit Orien 
tierung und Bewertung zu tun hat, 
sondern auch eine traditionelle Form 
der Kontaktaufnahme ist. Sie ist eine 
Art und Weise, Beziehung herzustel 
len. Es schafft eine vertraute Basis, 
wenn man irgendjemanden kennt, der 
mit dem anderen verwandt oder be 
kannt ist. «Kennst du nicht...?» - 
«Bist du nicht die oder der?» Beim 
Fragen kommt das ganze Spektrum 
der Verwandtschaft und Bekannt 
schaft in Betracht. 
Ich habe immer wieder gestaunt, wie 
oft sich jemand fand, der im Gespräch 
allen bekannt war, wie oft Gemeinsa 
mes gefunden wurde, wie Beziehungen 
sozusagen Orientierungshilfen sein 
können. Eine Frau nannte ihre Adres 
se, die andere Frau wusste sofort, wo 
die Strasse ist, denn dort wohne die 
Schwiegermutter der Schwester. Pein 
lich, wenn man sich gegenüber einer 
Person abfällig über eine andere äus- 
sert und nicht weiss, dass diese mit 
einander verwandt oder befreundet 
sind. Mein Vater zitierte in diesem Zu 
sammenhang immer wieder den le 
gendären Pfarrer Tschugmell, welcher 
gesagt haben soll: «Schimpft nicht 
übereinander, ihr seid alle miteinan 
der verwandt.» 
Es hat seinen Wert, in einer vertrauten 
Welt zu leben. In meiner Jugend konn 
te ich aber noch nicht verstehen, was 
ein Balzner mir versicherte: «So wohl 
wie ein Fisch im Wasser fühle ich 
mich nur in Balzers.» Sich aufgeho 
ben fühlen in der dörflichen Gemein 
schaft, in der die Familie seit Genera 
tionen lebt und verwurzelt ist, genau 
zu wissen, was man tun und was man 
lassen muss, zu wissen, mit wem man 
es zu tun hat, auch vertraut sein mit 
der Landschaft, Strassen und Gebiete 
benennen können - heute weiss ich 
diese Qualitäten zu schätzen! 
Inzwischen lebe ich in Deutschland 
und habe wieder andere Erfahrungen 
gemacht. Um hier Menschen einzu 
schätzen, ist die Frage nach der Bil 
dung besonders wichtig. Wer Dialekt 
spricht, bekommt keine gute Bewer 
tung. Geld und Preise sind ein belieb 
tes Gesprächsthema. Deutsche Mütter 
achten schon bei der Wahl des Kinder 
gartens darauf, dass der Ausländeran 
teil nicht zu hoch ist. Entweder hatte 
ich Glück, und es wurde einfach über 
gangen, dass ich Ausländerin bin, 
oder es wurde mir versichert, dass ich 
nicht zu den Ausländern gezählt wer 
de, gegen die Vorbehalte ausgespro 
chen wurden. Ich habe bemerkt, wie 
manchmal vergessen wird, dass es 
noch andere Länder gibt, in denen 
deutsch gesprochen wird - ein ande 
res Deutsch und ein anderes Leben. 
Manchmal sind die Unterschiede so 
gering, dass ich sie kaum bemerke 
und deshalb nicht weiss, was ich 
falsch gemacht habe. 
Im Kaufhaus habe ich eine Verkäufe 
rin nach «Abfallsäcken» gefragt. Die 
Frau schaute mich komisch an und 
meinte: «Apfelsäcke haben wir nicht!» 
Ich versuchte es mit «Misttüten» - 
ohne Erfolg. Endlich erinnerte ich 
mich an das «richtige» Wort, nämlich 
«Mülltüten». Ich habe auch gelernt, 
dass es nicht «Gang» heisst, sondern 
«Flur», nicht «Stiege», sondern «Trep 
pe», dass in Deutschland niemand 
parkiert, sondern alle «parken». Als 
ich nach zwei Wochen Heimaturlaub 
mit meinem kleinen Sohn nach 
Deutschland zurückkam, wurde er zu 
meinem grossen Erstaunen gefragt: 
«Sprichst du noch deutsch?» 
Viele Erfahrungen hätte ich nicht ge 
macht, wenn ich den Vorschlag mei 
nes Onkels beherzigt hätte. Nicht 
ohne Humor meinte er damals: «Hü- 
root on vo do, denn woos ma, was ma 
hät.» Er nannte einen Ort in Vorarl 
berg, der als Grenze für mögliche Hei 
ratskandidaten angesehen wurde. Viel 
leicht ist es leichter, wenn man in eine 
Ehe gemeinsame Traditionen mit 
bringt, sich an Weihnachten nicht ent 
scheiden muss, ob es Gans mit Rot 
kraut oder Schweinerollbraten mit 
Sauerkraut gibt und ob man an Ostern 
Ostereier oder ein Osternest sucht. 
Wenn ich heute nach Liechtenstein 
komme, geniesse ich nicht nur die ver 
traute Landschaft, sondern auch die 
Sprache und die Art der Menschen. 
Hier hat jeder seinen Platz, man kann 
fortgehen und auch wiederkommen: 
Es bleibt so. Ich bleibe immer eine 
Liechtensteinerin.
	        

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