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gemeine Bezeichnung bekannt ist, die
das Gegenteil, also eine Abgrenzung
«nach unten», benennt.
In Wien hatte ich mich daran ge
wöhnt, nur für mich allein zu stehen.
Es genügte, mich mit meinem Vor-
und Nachnamen vorzustellen. Das än
derte sich jedoch wieder, als ich nach
Liechtenstein zurückkam. Sowohl bei
der Wohnungs- als auch bei der
Arbeitssuche wurde ich nach meiner
Familie gefragt.
Einmal sollte ich über die alten Ge
genstände der Gemeinde Balzers spre
chen. Nachdem mein Name genannt
war, begann unter den Zuhörern (aus
ganz Liechtenstein) ein «Werweis-
sen», wer ich sei, d. h. aus welcher Fa
milie ich käme. Ich hörte fasziniert
den komplizierten Ausführungen zu,
denen ich nicht immer folgen konnte.
Als jeder Bescheid wusste, wurde es
still. Ich konnte beginnen.
Bei einer Einladung stellte mich mei
ne Freundin einem Liechtensteiner
«nur» mit meinem Namen vor. Der
Mann schwieg und überlegte. Mein
Name sagte ihm ganz und gar nichts.
So fragte er mich einfach nach meiner
Familie. Damals habe ich mich geär
gert, dass ich nicht als Person zählte,
sondern nur als Mitglied einer Fami
lie, die - wie jede Familie - mit einer
Reihe von mündlich tradierten Eigen
schaften in der Gesellschaft dasteht.
Heute verstehe ich, dass die Frage
nach der Familie nicht nur mit Orien
tierung und Bewertung zu tun hat,
sondern auch eine traditionelle Form
der Kontaktaufnahme ist. Sie ist eine
Art und Weise, Beziehung herzustel
len. Es schafft eine vertraute Basis,
wenn man irgendjemanden kennt, der
mit dem anderen verwandt oder be
kannt ist. «Kennst du nicht...?» -
«Bist du nicht die oder der?» Beim
Fragen kommt das ganze Spektrum
der Verwandtschaft und Bekannt
schaft in Betracht.
Ich habe immer wieder gestaunt, wie
oft sich jemand fand, der im Gespräch
allen bekannt war, wie oft Gemeinsa
mes gefunden wurde, wie Beziehungen
sozusagen Orientierungshilfen sein
können. Eine Frau nannte ihre Adres
se, die andere Frau wusste sofort, wo
die Strasse ist, denn dort wohne die
Schwiegermutter der Schwester. Pein
lich, wenn man sich gegenüber einer
Person abfällig über eine andere äus-
sert und nicht weiss, dass diese mit
einander verwandt oder befreundet
sind. Mein Vater zitierte in diesem Zu
sammenhang immer wieder den le
gendären Pfarrer Tschugmell, welcher
gesagt haben soll: «Schimpft nicht
übereinander, ihr seid alle miteinan
der verwandt.»
Es hat seinen Wert, in einer vertrauten
Welt zu leben. In meiner Jugend konn
te ich aber noch nicht verstehen, was
ein Balzner mir versicherte: «So wohl
wie ein Fisch im Wasser fühle ich
mich nur in Balzers.» Sich aufgeho
ben fühlen in der dörflichen Gemein
schaft, in der die Familie seit Genera
tionen lebt und verwurzelt ist, genau
zu wissen, was man tun und was man
lassen muss, zu wissen, mit wem man
es zu tun hat, auch vertraut sein mit
der Landschaft, Strassen und Gebiete
benennen können - heute weiss ich
diese Qualitäten zu schätzen!
Inzwischen lebe ich in Deutschland
und habe wieder andere Erfahrungen
gemacht. Um hier Menschen einzu
schätzen, ist die Frage nach der Bil
dung besonders wichtig. Wer Dialekt
spricht, bekommt keine gute Bewer
tung. Geld und Preise sind ein belieb
tes Gesprächsthema. Deutsche Mütter
achten schon bei der Wahl des Kinder
gartens darauf, dass der Ausländeran
teil nicht zu hoch ist. Entweder hatte
ich Glück, und es wurde einfach über
gangen, dass ich Ausländerin bin,
oder es wurde mir versichert, dass ich
nicht zu den Ausländern gezählt wer
de, gegen die Vorbehalte ausgespro
chen wurden. Ich habe bemerkt, wie
manchmal vergessen wird, dass es
noch andere Länder gibt, in denen
deutsch gesprochen wird - ein ande
res Deutsch und ein anderes Leben.
Manchmal sind die Unterschiede so
gering, dass ich sie kaum bemerke
und deshalb nicht weiss, was ich
falsch gemacht habe.
Im Kaufhaus habe ich eine Verkäufe
rin nach «Abfallsäcken» gefragt. Die
Frau schaute mich komisch an und
meinte: «Apfelsäcke haben wir nicht!»
Ich versuchte es mit «Misttüten» -
ohne Erfolg. Endlich erinnerte ich
mich an das «richtige» Wort, nämlich
«Mülltüten». Ich habe auch gelernt,
dass es nicht «Gang» heisst, sondern
«Flur», nicht «Stiege», sondern «Trep
pe», dass in Deutschland niemand
parkiert, sondern alle «parken». Als
ich nach zwei Wochen Heimaturlaub
mit meinem kleinen Sohn nach
Deutschland zurückkam, wurde er zu
meinem grossen Erstaunen gefragt:
«Sprichst du noch deutsch?»
Viele Erfahrungen hätte ich nicht ge
macht, wenn ich den Vorschlag mei
nes Onkels beherzigt hätte. Nicht
ohne Humor meinte er damals: «Hü-
root on vo do, denn woos ma, was ma
hät.» Er nannte einen Ort in Vorarl
berg, der als Grenze für mögliche Hei
ratskandidaten angesehen wurde. Viel
leicht ist es leichter, wenn man in eine
Ehe gemeinsame Traditionen mit
bringt, sich an Weihnachten nicht ent
scheiden muss, ob es Gans mit Rot
kraut oder Schweinerollbraten mit
Sauerkraut gibt und ob man an Ostern
Ostereier oder ein Osternest sucht.
Wenn ich heute nach Liechtenstein
komme, geniesse ich nicht nur die ver
traute Landschaft, sondern auch die
Sprache und die Art der Menschen.
Hier hat jeder seinen Platz, man kann
fortgehen und auch wiederkommen:
Es bleibt so. Ich bleibe immer eine
Liechtensteinerin.