35
Kindermund und Kinderreime
Georg Burgmeier
Vorbemerkungen
Bereits 1928 beklagt sich Josef Ospelt
im Band 28 des Historischen Jahrbu
ches darüber, wie wenig in Liechten
stein unternommen werde, um Sa
gen, Brauchtum, Sprüche und Spiele
vor dem Vergessen zu bewahren. Da
bei sei «das Sammeln von Bräuchen
und Sprüchen ... bei uns umso dring
licher, als diese immer mehr, von Jahr
zu Jahr, aus dem Gedächtnis des Vol
kes entschwinden. Diese Erfahrung
wird jeder machen, der sich mit dem
Sammeln solchen Volksgutes be
fasst.» (In: JBL 1928, S. 167.)
Mehr als sieben Jahrzehnte nach die
sem resignierenden Klagelied hat sich
die Situation nicht gebessert. Im Ge
genteil: Was in meiner eigenen Kind
heit ein wesentlicher Bestandteil von
Spiel und Spass und nicht zuletzt von
Erziehung war, hat bei den Kindern
heute ausgedient. Dies ist nicht ver
wunderlich, haben doch Spiel, Unter
haltung und auch Erziehung in den
letzten Jahren eine derartige Verände
rung durchgemacht, dass Abzählrei
me, Spottliedchen oder gar erziehe
risch verbrämte Reime nicht mehr ge
fragt sind.
Der Blick zurück in eine Zeit, als die
heute Fünfzig- oder Sechzigjährigen
selber noch Kinder waren, offenbart
uns eine Gesellschaft, deren Alltag
nicht unbedingt einfacher, aber doch
überschaubarer und aus diesem
Grund wohl auch besser zu bewälti
gen war. Es gab gewisse Normen, die
seit jeher Gültigkeit besassen und an
deren Wert auch nie ernsthaft gezwei-
felt wurde - ausser von den Kindern
selber, wie verschiedene Spottverse
beweisen.
Die Erwachsenenwelt hatte sich Re
geln geschaffen, an die man sich hielt,
um in der Gemeinschaft nicht unlieb
sam aufzufallen. «Was würden auch
die Leute sagen?», war eine der gängi
gen Fragen, die jedem Einzelnen als
Richtschnur für das tägliche Verhal
ten dienten. Auch hier waren es wie
derum die Kinder, die in Spottliedern
oder Rätseln bewusst gegen solche
Verhaltensmuster verstiessen. Dies
geschah mit besonderer Vorliebe da
durch, dass «unanständige» Wörter
verwendet wurden, die bei den Er
wachsenen erfahrungsgemäss ver
pönt waren - wenn sie aus Kinder
mund stammten. Viele der verwende
ten Sprüche und Reime erfreuten
aber Kinder wie Erwachsene einfach
durch den Reim und den kindlichen
Humor, ein Reim um des Spasses wil
len, um Christian Morgenstern etwas
abzuwandeln.
Versetzen wir uns also ein paar Jahr
zehnte zurück und gemessen wir, was
bereits damals der Erheiterung und -
wenigstens im Ansatz - der Erbauung
gedient hat.
Mit Kinderreimen durch das Jahr
Zum neuen Jahr
Der Jahresbeginn war für Kinder frü
her ein Grund, bei jedem Wetter die
warme Stube zu verlassen, um bei
Nachbarn, Bekannten und Verwand
ten vorzusprechen und ein gutes neues
Jahr zu wünschen, und das klang
meist so;
/ wüüsch dr a guats neus Joor,
dass d' lang läbscht
und gsund blibscht
und in Himml kunnscht.
Dieser fromme Spruch konnte dann
aber auch hinter vorgehaltener Hand
in abgewandelter Form so lauten:
I wüüsch dr a guats neus Joor,
dass d' lang läbscht
und anara Wand kläbscht.
Besonders kecke Bürschchen hatten
noch eine Steigerung auf Lager;
/ wüüsch dr a guats neus Joor,
dass d' lang läbscht
und baal(!) in Himml kunnscht.
Vor allem ältere Kinder machten sich
einen Spass daraus, ihre jüngeren Ge
schwister anzuleiten, dass diese Ge
dichte aufsagten, die weniger den
Glückwunsch, dafür umso mehr den
damit verbundenen Geschenkbatzen
zum Inhalt hatten:
I bi ¿in klimm Stumpa
und ha no klinne Bei.
Girnmer du a Füüferle
dänn gon i weder hei.
Der Ursprung dieses etwas despektier
lichen Sprüchleins dürfte in der
Schweiz zu suchen sein. Kein Liech
tensteiner, auf jeden Fall kein Balzner,
würde «Bei» für «Bein» und «hei» für
«heim» sagen. Da sich aber «Füess» auf
«hääm» überhaupt nicht reimt, haben
die Balzner Kinder die Reimwörter
wohl «vo ober äm Rhii» entliehen.
Funkensonntag und Fasnacht
Balzers ist die einzige liechtensteini
sche Gemeinde, in der auch heute
noch Schulbuben für die Errichtung
des Funkens verantwortlich sind. Zu
einem richtigen Funken gehörten
schon immer Reisigbündel («Bör
dele») und Maisstroh («Törgga-
stroo»). Auch heute sammeln die
Funkenbuben ausgediente Christbäu
me, gebündeltes Holz und Stroh, wo
bei aber der damit verbundene Vers
von früher kaum mehr zu hören ist:
Bördele, Bördele, Törggastroo,
alte Wiiber nöömer oo.
Das Gcringschätzen von alten Frauen,
wie sie in diesem derben Liedchen
vorkommt, dürfte auch früher nicht
die Regel gewesen sein. Vielmehr ver
raten diese Zeilen einen gewissen Be
zug zur Zeit des Hexenwahns, wenn
auch der Brauch des Funknens in die