Volltext: Balzner Neujahrsblätter (2002) (2002)

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gion bestimmte in einem grossen 
Ausmass Alltag und Verlauf des Jah 
res. Das Läuten der Kirchenglocken 
war und ist alltäglich. Es sind ganz 
verschiedene Botschaften, die vermit 
telt werden. Das Glockengeläut kann 
mich noch heute in die verschiedens 
ten Stimmungen versetzen. Es ist je 
weils anders, ob die Glocken Ostern 
einläuten oder Weihnachten, ob sie 
zur Sonntagsmesse laden oder zu ei 
ner Andacht. 
Eine Abendandacht bleibt mir unver 
gesslich. Gegen Ende der Andacht 
kam überraschend und sehr schnellen 
Schrittes dr Wise (Alois Frick) mit 
ernstem Gesicht in die Kirche, ging 
nach vorne zum Altar, bekreuzigte 
sich in aller Eile und ging nur knapp 
in die Knie, bevor er in der Sakristei 
verschwand. Alle in der Kirche Anwe 
senden wussten, dass etwas Schlim 
mes geschehen sein musste. Es war 
noch schlimmer und für mich unbe 
greiflich; Das Heidi (Heidi Frick), ein 
hübsches und freundliches Mädchen 
mit Lockenkopf, war von einem Auto 
überfahren worden und gestorben. 
Kirchenglocken verkünden den Tod 
eines Dorfmitgliedes. Das Totenglöck- 
lein läutet für Frauen anders als für 
Männer. Mir war immer unheimlich, 
wenn ich in der Schule oder auf dem 
Schulweg das Totenglöcklein hörte, 
aber noch nicht wusste, wer verstor 
ben war. Mit und trotz seiner Härte 
war damals der Tod nicht aus dem 
Bewusstsein ausgegrenzt, auch nicht 
für uns Kinder. Kinder waren einbe 
zogen in das Abschiedsritual. Beim 
Leichenzug, vom Haus des Verstorbe 
nen zur Kirche und von der Kirche 
zum Friedhof, waren es Buben, die 
das provisorische Holzkreuz, und 
Mädchen, die das Totenlichtlein hin 
ter dem Sarg hergetragen haben. Das 
war eine Pflicht der Nachbarskinder. 
Mir erschien es damals als ein Privi 
leg, das ich nie hatte. Manchmal sind 
wir als ganze Klasse mit dem Lehrer 
Gstöhl zu einem Begräbnis gegangen. 
Einmal war ich mir fast sicher, dass 
ich dem «Tod» begegnet bin. Es war 
ein sehr warmer Föhntag im Sommer. 
Ich hatte auf dem Weg von der Schule 
nach Hause gegen die Wucht des 
Föhns heftig anzukämpfen, ganz be 
sonders im Gnetschsträssle. Dort, wo 
der Weg zum Pfarrhaus abgeht, be 
gegnete mir ein Mann. Er war gross 
nur ein Unterhemd. Hinter einer di 
cken Brille schauten mich grosse, 
dunkle Augen an. Auf der Schulter des 
Mannes ruhte eine Sense. Wie der 
Mann mich so anschaute und sein 
Blick mich nicht losliess, überkam 
mich plötzlich der Gedanke, dass dies 
der Sensenmann sein könnte. Der 
Friedhof war nah. Ich bin dem «Tod» 
entkommen, trotz Föhn. 
Das Gnetschsträssle ist wahrschein 
lich die Strasse, auf der ich am meis 
ten gegangen bin - mein Schulweg. Es 
gab eine Abkürzung, «s Wägle», schräg 
durch die Wiesen. Diese Abkürzung 
nahm ich, wenn ich allein war, es eilig 
hatte, wenn ich in der Sennerei Milch 
oder etwas aus dem Gefrierhaus ho 
len musste. Die Frau Senn schaute 
streng, wenn ich ein zweites Mal kam, 
um drei Liter Milch zu holen. Manch 
mal habe ich nämlich die Milchkanne 
geschwungen, während ich mich im 
Kreis gedreht habe. Wenn sich die 
Milch auf den Vorplatz der Sennerei 
ergoss, war das Experiment mit der 
Fliehkraft missglückt. 
Der Schulweg war meistens eine ge 
sellige Angelegenheit, gingen doch die 
Nachbarskinder denselben Weg und 
schlossen sich manchmal auch jene 
Kinder an, die noch weiter zu gehen 
hatten. Nicht immer traf man sich. 
War im Winter die Eisschicht der vie 
len Strassenlöcher am Morgen schon 
eingedrückt, hatten die anderen das 
Vergnügen schon vor uns gehabt. In 
meiner unmittelbaren Nachbarschaft 
waren wir Mädchen eindeutig in der
	        

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