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gion bestimmte in einem grossen
Ausmass Alltag und Verlauf des Jah
res. Das Läuten der Kirchenglocken
war und ist alltäglich. Es sind ganz
verschiedene Botschaften, die vermit
telt werden. Das Glockengeläut kann
mich noch heute in die verschiedens
ten Stimmungen versetzen. Es ist je
weils anders, ob die Glocken Ostern
einläuten oder Weihnachten, ob sie
zur Sonntagsmesse laden oder zu ei
ner Andacht.
Eine Abendandacht bleibt mir unver
gesslich. Gegen Ende der Andacht
kam überraschend und sehr schnellen
Schrittes dr Wise (Alois Frick) mit
ernstem Gesicht in die Kirche, ging
nach vorne zum Altar, bekreuzigte
sich in aller Eile und ging nur knapp
in die Knie, bevor er in der Sakristei
verschwand. Alle in der Kirche Anwe
senden wussten, dass etwas Schlim
mes geschehen sein musste. Es war
noch schlimmer und für mich unbe
greiflich; Das Heidi (Heidi Frick), ein
hübsches und freundliches Mädchen
mit Lockenkopf, war von einem Auto
überfahren worden und gestorben.
Kirchenglocken verkünden den Tod
eines Dorfmitgliedes. Das Totenglöck-
lein läutet für Frauen anders als für
Männer. Mir war immer unheimlich,
wenn ich in der Schule oder auf dem
Schulweg das Totenglöcklein hörte,
aber noch nicht wusste, wer verstor
ben war. Mit und trotz seiner Härte
war damals der Tod nicht aus dem
Bewusstsein ausgegrenzt, auch nicht
für uns Kinder. Kinder waren einbe
zogen in das Abschiedsritual. Beim
Leichenzug, vom Haus des Verstorbe
nen zur Kirche und von der Kirche
zum Friedhof, waren es Buben, die
das provisorische Holzkreuz, und
Mädchen, die das Totenlichtlein hin
ter dem Sarg hergetragen haben. Das
war eine Pflicht der Nachbarskinder.
Mir erschien es damals als ein Privi
leg, das ich nie hatte. Manchmal sind
wir als ganze Klasse mit dem Lehrer
Gstöhl zu einem Begräbnis gegangen.
Einmal war ich mir fast sicher, dass
ich dem «Tod» begegnet bin. Es war
ein sehr warmer Föhntag im Sommer.
Ich hatte auf dem Weg von der Schule
nach Hause gegen die Wucht des
Föhns heftig anzukämpfen, ganz be
sonders im Gnetschsträssle. Dort, wo
der Weg zum Pfarrhaus abgeht, be
gegnete mir ein Mann. Er war gross
nur ein Unterhemd. Hinter einer di
cken Brille schauten mich grosse,
dunkle Augen an. Auf der Schulter des
Mannes ruhte eine Sense. Wie der
Mann mich so anschaute und sein
Blick mich nicht losliess, überkam
mich plötzlich der Gedanke, dass dies
der Sensenmann sein könnte. Der
Friedhof war nah. Ich bin dem «Tod»
entkommen, trotz Föhn.
Das Gnetschsträssle ist wahrschein
lich die Strasse, auf der ich am meis
ten gegangen bin - mein Schulweg. Es
gab eine Abkürzung, «s Wägle», schräg
durch die Wiesen. Diese Abkürzung
nahm ich, wenn ich allein war, es eilig
hatte, wenn ich in der Sennerei Milch
oder etwas aus dem Gefrierhaus ho
len musste. Die Frau Senn schaute
streng, wenn ich ein zweites Mal kam,
um drei Liter Milch zu holen. Manch
mal habe ich nämlich die Milchkanne
geschwungen, während ich mich im
Kreis gedreht habe. Wenn sich die
Milch auf den Vorplatz der Sennerei
ergoss, war das Experiment mit der
Fliehkraft missglückt.
Der Schulweg war meistens eine ge
sellige Angelegenheit, gingen doch die
Nachbarskinder denselben Weg und
schlossen sich manchmal auch jene
Kinder an, die noch weiter zu gehen
hatten. Nicht immer traf man sich.
War im Winter die Eisschicht der vie
len Strassenlöcher am Morgen schon
eingedrückt, hatten die anderen das
Vergnügen schon vor uns gehabt. In
meiner unmittelbaren Nachbarschaft
waren wir Mädchen eindeutig in der