Volltext: Balzner Neujahrsblätter (2001) (2001)

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nen Krätza sich gegen den Sturm stemmte, so konnte er doch nicht verhindern, dass er 
und Lodovicka sich manchmal im Kreisel drehten, sie fast zu Boden geworfen wurden 
und kaum noch Atem bekamen, ihren schweren Weg nach Mäls fortzusetzen. Die Fins 
ternis war derart massig und das Toben des Sturmes so heftig wie selten einmal. 
«Wenn wir drüben beim Fläscher Loch den Riegel erreichen, haben wir das Ärgste 
überstanden», meinte tröstend der Bernhard. «Ja», sagte Lodovicka, «bei schönem Wet 
ter hätten wir über den See eine leichte Fahrt gehabt.» Leise betete sie «Vater dort oben, 
der Du thronst über dem Sternenmeer, der Du den jagenden Sturm über das heimge 
suchte Tal brausen lässt, Deine Wege sind unergründlich, für uns Erdenkinder oft nicht 
verständlich, erbarme Dich unser, siehst Du diese wankende, vom Schicksal getroffene 
Frau, ist nicht ihr todwundes Herz Deiner liebenden Hilfe bedürftig, wo sie trotz Sturm 
und Leid bereit ist, Dein heiligstes Gebot der Nächstenliebe zu erfüllen?» Eine solche 
Frau ist der grösste Reichtum eines Volkes und eine von den wenigen Gerechten, 
deretwillen der Herr ein sündiges Volk verschont. 
Die beiden hatten nun den Riegel erreicht. Im Buchenwald, der sich vom Weg auf 
wärts über Gaschnal erhob, wäre es möglich gewesen, ein wenig zu verschnaufen, aber 
die Sorge um Christel überwand ihre Müdigkeit, ihre Gedanken weilten bei der armen 
Frau, sie durften nicht zu spät kommen, daher beeilten sie sich neuerlich. Der Sturm 
hatte etwas nachgelassen, sie kamen rascher vorwärts. Endlich standen sie vor einem 
niedrigen Häuschen, das sich schemenhaft aus dem Dunkel der Nacht erhob. Da hauste 
also die arme Holzer Christel mit ihren fünf Kindern. Sie hatte auch ein grosses Leid 
erfahren, denn vor einem halben Jahr verlor sie ihren Mann, den Gustav. Er war beim 
Holzflössen im Rhein tödlich verunglückt. Sie hatte einen erbärmlichen Kampf ums 
Leben ganz allein zu bestehn und brauchte heute ganz besonderen Beistand in ihrer 
schweren Stunde der Niederkunft. Lodovicka und Bernhard traten in die geräumige, 
von einem Kienspan matt erleuchtete Stube. In einer Ecke lag die Christel angekleidet 
auf einer Art Bettstatt, ringsherum, auf grob gezimmerten Bänken lagen die fünf Kinder 
im Halbschlaf. Beim Anblick der Gestalten erhob sich die Christel und rief, Lodovicka 
erkennend: «Gottlob, die Vicka», dann sank sie matt wieder auf ihr Lager zurück. Durch 
diesen Freudenruf erwachten die Kinder, standen rasch auf und liefen erregt durchein 
ander, betrachteten Lodovicka und Bernhard, sie ahnten, dass jetzt die ersehnte Hilfe 
ihnen von Gott gesandt wurde und sie nicht mehr verlassen sind. Das vierjährige Mariele 
kam auf Lodovicka zu und rief: «Bist du aber schön, bist du die Himmelmamma? Unse 
re Mutter hat uns erzählt, dass du, wenn wir recht brav sind, noch diese Nacht zu uns 
kommst und dann wird die Mutter wieder gesund und wir brauchen nicht Hunger lei 
den.» «Ja», mischt sich der fünfjährige Hansel ein, «und Brot und noch viele gute Sa 
chen bekommen wir zu essen. Bleibst du jetzt immer bei uns?» Bei dieser Frage schlang 
das Mariele seine mageren Ärmchen um Lodovicka und küsste sie herzhaft auf den 
Mund. «Gell», sagte es, «du bleibst bei uns, ich bin so froh, dass du da bist. Warum 
weinst du Himmelmamma?» Der Empfang und die kindliche Freude hatten Lodovicka 
überwältigt, sie konnte sich der Tränen nicht erwehren. Es waren Freudentränen einer 
hilfreichen Mutter, der das Schicksal des Nächsten so nahe ging, wie das eigene und die 
ein grosses Mitleid mit diesen Kindern erfasste, die die Not und Entbehrung täglich
	        

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