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Beatrix Hengevoss (1934)
Es war im Juni 1958. Langsam fuhr das Taxi, das uns von Sargans abholte, über die Rhein
brücke. Vor uns lag die Burg Gutenberg, das Wahrzeichen des Dorfes, das unsere neue
Heimat werden sollte: Balzers. Erinnerungen sind verführerisch. Je mehr man sich in sie
versenkt, desto mehr holt die Vergangenheit die Gegenwart ein. So werde ich wieder für
kurze Zeit zu der jungen Frau, die mit ihrem Mann in das Haus Heiligwies 433 einzieht.
Balzers war damals ein typisches Dorf. Kaum eine Strasse war geteert, Autos fuhren nur
wenige. Die Bauern bestellten ihre Felder noch mit Ross und Wagen: «Im Märzen der
Bauer die Rösslein anspannt...». Dazumal war das Lied noch passend. Es gab mehr Bau
ernhöfe als heute. Hinter den meisten stand ein kleines Holzhäuschen, aus dem es ab
Herbst kräftig qualmte. Erst später erfuhren wir, dass es Räucherhäuschen waren; wir
hatten sie einem anderen Zweck zugedacht!
Das Dorfbild hat sich inzwischen sehr verändert. Geblieben aber sind Hilfsbereitschaft
und Freundlichkeit vieler Balzner. Schon am ersten Tag nach unserem Einzug durften
wir diese erfahren, als Anneles und Manes Tochter Rita uns mit Blumen und Kohlkopf
beschenkte: «Das isch zum lizog vo der Mama und vom Täta med lieba Grüess!» Wir
hatten damals wie heute immer Glück mit unseren Nachbarn. In der Heiligwies beka
men wir Nachbarsfrauen in den gleichen Jahren und Monaten einige unserer Kinder;
dies schuf besondere Verbindungen. Wir fühlten uns ohne Vorbehalte in die Strassen
gemeinschaft aufgenommen, halfen uns gegenseitig, und für unsere Kinder waren der
«Eene Ferde» und die Familien von Annele und Mane, von Berta und Josef beinahe ver
trauter als die weit entfernt lebenden eigenen Verwandten. Sprachschwierigkeiten hat
ten wir kaum. Bald wusste ich, was «Summervögel», «Schäfa» und «Kefel» sind und was
«hüüsla» bedeutet. Nur eines war mir unverständlich, dass Annele auf meine Frage nach
ihrem Ergehen stets mit heiterem Gesicht antwortete: «Bi öberuus zfreda!» Für mich
klang das wie «unzufrieden». Wieso dann aber die fröhliche Miene? Alsbald lernte ich
auch viele andere Balzner beim Einkäufen und den zahlreichen Besuchen in der Arztpra
xis unseres unvergessenen Dr. Alban Vogt kennen. Selten erfuhr ich Zurückhaltung. Es
war mehr ein Abtasten, wie die Neue wohl einzuschätzen ist. Viel Vergnügen bereiteten
mir in den sechziger Jahren das Mitspielen in der Operette «Der Zigeunerbaron» sowie
die Mitarbeit im Frauenberger Kreis, während ich heute sehr gerne die Vertretungen im
Altersturnen übernehme. Durch die Gründung des Feldgartenvereins teile ich mit so
manchen die Freuden und Ärgernisse des Gärtnerdaseins. So wurde der Kreis der Be
kannten und Freunde immer grösser.
Seit unserem Einzug sind über vierzig Jahre vergangen. Alsbald hatten wir mit einem
Wohnortwechsel nichts mehr im Sinn und nun im Alter erst recht nicht. Dank derer, die
uns von Anfang an herzlich zugetan waren und noch sind, gelang es uns, neue Wurzeln
zu schlagen. Balzers ist zu unserer Heimat geworden. Vielleicht geht noch einmal der
Traum in Erfüllung, dass unsere Kinder, die zum Teil im Ausland leben, wieder ihr Wohn
recht erhalten, wenn sie einst an ihren Geburtsort zurückkehren möchten.