Volltext: Balzner Neujahrsblätter (1998) (1998)

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Die Mittel zu dieser Pöbelaufklärung 
waren u. sind die Legionen Schriften, 
Flugblätter, periodische Blätter, Zei 
tungen usw. Dann rückten die so ge 
nannten Volksmänner nach, und 
bezauberten die Winkel-, Schenkhaus 
und Stuben-Gesellschaften, die überall 
ohne Zahl bestehen, durch Deklama 
tionen u. Schimpfen über die Regie 
rungen usw. Die Horchenden so, dass 
in Aargau 5000, in Thurgau 3000, in 
Usteri K. Zürich 13000 Mann sich ver 
sammelten, Petitionen an die Regie 
rungen verfassten, u. deren Gewäh 
rung mit Kolben, usw. erwirkten. 
Diesen erhabenen Mustern machte 
man es in allen Kantonen mehr oder 
minder massiv nach, überall aber 
energisch u. absolut. Sie sehen nun, 
wer u. was gilt. In allen alten Kan 
tonen sind nun Verfassungsräthe nie 
dergesetzt, direkte vom Volke, d.h. vom 
Pöbel gewählt. Auch für diese Wahlen 
werden die Wählenden bearbeitet 
durch Schriften, so wie schon durch 
solche auch die Grundsätze der künft. 
Verfassungen diktiert sind. Dabei habe 
nur ich schon etliche u. zwanzig u. 
nur für den K. St. Gallen gelesen. Für 
letzteren Kanton sind 149 Verfas 
sungsräthe schon in der 4ten Woche 
beisammen in der St. Gallen, darunter 
sind einige Reg. Rät he, Militairs, 
Handwerker, Advokaten, Bauern, 1 
kath. Geistlicher, Beamtete usw. Der 
Sitzungsaal steht offen, einige 100 
Rheinthaler Kerls machten diesen 
Herren letzthin Visite, u. wollten sich 
nur mit Mühe abspeisen lassen. Als 
oberstes Prinzip ist angenommen: 
«Die Souverenetät liegt in der Gesamt 
heit des Volkes. Dieses verweigert oder 
nimmt an die vorgeschlagene Verfas 
sung u. alle Gesetze. Es gibt keinen 
Vorrang der Person, Stände usw.» 
Der Herr Bischof hat bisher schon 
zwei Schreiben eingereicht, die man 
aber sogleich ablehnend an eine 
Commission wies. Ja Herr Vetter! 
wenn das Ding so fort geht, dann steht 
es übel um unsere Religion. Dass die 
Schweiz schon lange das Asyl staats 
verbrecherischer Carbonari war, zeigt 
sich erst itzt klar. Indess da die 
Sanction der Gesetze künftig vom 
Volke ausgehen wnrd, so ist zu hoffen, 
die Katholiken werden als solche 
dastehen; aber denken Sie sich die 
Lage, die Gefahren, da beide Partheien 
beinahe gleich sind im Kanton. Man 
geht auf Domen, u. zwischen Schlan 
gen. 
Um nun zum Resultat meiner Aufgabe 
zu kommen: Die ganze Schweiz ist im 
Aufstande; diese w?ard bombardiert 
durch liberale Schriften, er ist aber in 
etwas zu entschuldigen durch die 
höchst mangelhafte, kranke, zweck 
widrige Veifassung von 1814: ein gros 
ser Teil des losgelassenen Volkes raset: 
an seiner Spitz stehen liberale im brei 
testen Sinne; die liberalsten Grund 
sätze kommen oben an; u. ächt kath. 
Partei ist die mindere, u. eingeschüch 
tert u. kraftlos. Man arbeitet auf Ver 
schmelzung beider herrschenden Con- 
fessionen hin; katholische Grundsätze 
sind verpönt; - das ganze ist ein Kind 
der Juliustage in Paris. 
Das ist meine Ansicht über das 
unglückliche, hochgepriesene Treiben. 
Ob Sie sich daraus klare Ideen schöp 
fen können, weiss ich nicht. Die 
Darstellung ist schwierig, weil der 
Gegenstand ja selbst so trübe u. im 
Chaos liegt; einst wird die Geschichte 
selber lehren, wenn diese Aktionen u. 
Reaktionen minder oszilliren oder gar 
ruhen werden. Inzwischen bin ich zu 
fernerer Erläuterung bereit: sollte Sie 
die Sache interessieren: besser ge 
schieht es aber mündlich. 
So eben zeigen öffentliche Blätter, dass 
unser Veifassiingsralh über die religiö 
sen u. konfessionellen Angelegenhei 
ten sehr getheilter, u. sogar entgegenge 
setzter Ansichten sey; eine Neuner 
kommission soll bis 9. dies Monats 
über alle diese so wichtigen als schwie 
rigen Punkte ihr Gutachten bearbei 
ten, u. sie dann dem ganzen Verf. 
Rathe vorlegen. Eine grosse Partie will 
Aufhebung des Bisthums, Zertheilung 
des über 1 Million reichen kathol. 
Fonds, Einheit in den Erziehungs 
behörden, und in dem Ehegerichte; in 
der Schide usw. Allerliebst, dazu 
gehört, dass die Collaturen allen 
Gemeinden angetragen sind, wogegen 
der Bischof vergeblich protestierte. 
Was nun aus allem werden wnrd, ver 
mag Niemand zu bestimmen; gross 
sind die Erwartungen, gross die 
Spannung, stark gereizt die Gemüther; 
gewaltig der Abstand in Grundsätzen 
u. Behauptungen, alles unter sich ent 
zweit im Einzelnen, nur im Religiösen 
sind bloss zwo Partheien -; u. dies hei 
Geistlichen wie bei Weltlichen. 
Ich habe Sie vielleicht sehr ermüdet; 
also abgebrochen. Beruhigen Sie mich 
recht bald, dass Sie diese Zeilen erhal 
ten. 
Ich empfehle mich 
Ihnen 
ergebenster V. u. F. J. A. W. 
3.2.31
	        

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