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heit der Curia, aber um so mehr, der
Regierung; u. da letztere alles, erstere
nichts gilt, so kann Ihnen das Unheil
auf meine Lage unschwer fallen. Da
ich überdies in einem reformirten
Theile des Cantons stationirt bin, kön
nen die politischen Ereignisse, wie sie
in Frankreich u. Holland, Belgien usw.
usf. schon begonnen, einen uns leicht
ungünstigen Gang nehmen.
Lägen aber nicht meine Kräfte u. Ge
sundheit in Chur begraben; ich würde
trotz alles dessen für meine Existenz
sorglos seyn. Hier auf einem Ruhe
posten hätte sich des Lebens Keim
doch entfalten sollen, wäre er nicht ab-
gedorret; er ist es aber; zudem ist mei
ne Wohnung - eine ehemalige Kloster
propstei - auf nassem Boden gemauert
- meinem sehr geschwächten Nerven
system nachtheilig; u. der arge Rheu
matismus foltert mich schrecklich,
erst letzthin musste ich wieder zwei
Wochen einen Vicarius halten, u. der
wird nicht der letzte seyn.
Meine Verwandten, Hr. Jos. Wolfinger,
nun Priester, wird das Schicksal einst
auch beklagen, dass es ihn nun in
Chur, u. so lange, eingebannt; doch er
scheint Naturkräftiger, und örtlich
besser behandelt zu seyn, wohl ihm?
Aber einst der Welt wider gegeben, wird
er sich eben so wenig, als ich, darin zu
finden wissen.
Anders, anders sieht es im praktischen
Leben aus: veraltete Theorien, schola
stischer Quark, u. überspannte Spe
kulation verträgt unsere Zeit immer
weniger. Das möchte ich jedem Can-
didaten ans Herz legen: Was gewinnt
die gute Sache, was gewinnen wir,
wenn wir nicht bloss mit dem
Zeitgeiste, wenn wir mit uns selbst in
schroffem Contraste stehen? So wird
es aber nicht nur jenen, es wird jedem
Liechtensteiner so ergehen, der solche
Bildung erhält: dies sage ich wie aus
tiefer Überzeugung, so aus Mitleid ge
gen jeden Compatrioten. Unser Stand
will nicht bloss fromme, er will auch
wissenschaftliche Männer; Zeugen
dessen sind der Gang der Zeit, der
Geist der Wissenschaften, die Stimme
der Kirche, die Natur des Religiösen,
die Anforderung der Menschheit, jeder
Denkende, Sie seihst, mein Freund! -
Und sollte einst die Vorsehung Lan
deskinder in Liechtenstein zu Seelsor
gern wollen; wo thut eine wahrhaft
aufgeklärte Geistlichkeit mehr Noth,
als eben dort? Steht nicht dies Länd-
chen wenigst ein Jahrhundert allen
andern nach in jeder Beziehung? —
Genug: ich sehe erst, statt einen trauli
chen Brief geschrieben zu haben, mich
über Gegenstände ausgesprochen, die
ich gar nicht erwähnen wollte, u. ver-
gass vielleicht, was ich Anfangs schrei
ben wollte; ich bitte ab; allmählig
werde ich nachtragen. Beehren Sie
mich bald mit einem schriftlichen
Beweise, dass Sie gegenwärtige Zeilen
erhalten, dass Sie an mich denken, u.
die alte wohlwollende Gesinnung noch
haben, auf die ich immer viel Gewicht
gelegt, u. Vertrauen.
Missbrauch meiner Offenheit befürch
te ich von Ihnen nicht. Über den
Einschluss, den Sie mir doch nicht
verübeln wollen, mich erklärend, bitte
ich Sie, denselben sicher übermitteln
zu wollen: sollte aber die Person etwa
nicht mehr leben, so schicken Sie ihn
mir wieder.
Grüssen Sie mir Ihre Geliebte, u. wenn
es schicklich, melden Sie mir meine
Empfehlung an H. Pfr u. Commissar
in Schaa.
Lebert Sie wohl! Genehmigen Sie die
Versicherung meiner wahren Hoch
achtung u. Ergebenheit, womit geharrt
Ihr
ergebenster Vetter Wolfinger Pfr.
St. Peterzell am 21 Oct. 1830