Volltext: Balzner Neujahrsblätter (1998) (1998)

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heit der Curia, aber um so mehr, der 
Regierung; u. da letztere alles, erstere 
nichts gilt, so kann Ihnen das Unheil 
auf meine Lage unschwer fallen. Da 
ich überdies in einem reformirten 
Theile des Cantons stationirt bin, kön 
nen die politischen Ereignisse, wie sie 
in Frankreich u. Holland, Belgien usw. 
usf. schon begonnen, einen uns leicht 
ungünstigen Gang nehmen. 
Lägen aber nicht meine Kräfte u. Ge 
sundheit in Chur begraben; ich würde 
trotz alles dessen für meine Existenz 
sorglos seyn. Hier auf einem Ruhe 
posten hätte sich des Lebens Keim 
doch entfalten sollen, wäre er nicht ab- 
gedorret; er ist es aber; zudem ist mei 
ne Wohnung - eine ehemalige Kloster 
propstei - auf nassem Boden gemauert 
- meinem sehr geschwächten Nerven 
system nachtheilig; u. der arge Rheu 
matismus foltert mich schrecklich, 
erst letzthin musste ich wieder zwei 
Wochen einen Vicarius halten, u. der 
wird nicht der letzte seyn. 
Meine Verwandten, Hr. Jos. Wolfinger, 
nun Priester, wird das Schicksal einst 
auch beklagen, dass es ihn nun in 
Chur, u. so lange, eingebannt; doch er 
scheint Naturkräftiger, und örtlich 
besser behandelt zu seyn, wohl ihm? 
Aber einst der Welt wider gegeben, wird 
er sich eben so wenig, als ich, darin zu 
finden wissen. 
Anders, anders sieht es im praktischen 
Leben aus: veraltete Theorien, schola 
stischer Quark, u. überspannte Spe 
kulation verträgt unsere Zeit immer 
weniger. Das möchte ich jedem Can- 
didaten ans Herz legen: Was gewinnt 
die gute Sache, was gewinnen wir, 
wenn wir nicht bloss mit dem 
Zeitgeiste, wenn wir mit uns selbst in 
schroffem Contraste stehen? So wird 
es aber nicht nur jenen, es wird jedem 
Liechtensteiner so ergehen, der solche 
Bildung erhält: dies sage ich wie aus 
tiefer Überzeugung, so aus Mitleid ge 
gen jeden Compatrioten. Unser Stand 
will nicht bloss fromme, er will auch 
wissenschaftliche Männer; Zeugen 
dessen sind der Gang der Zeit, der 
Geist der Wissenschaften, die Stimme 
der Kirche, die Natur des Religiösen, 
die Anforderung der Menschheit, jeder 
Denkende, Sie seihst, mein Freund! - 
Und sollte einst die Vorsehung Lan 
deskinder in Liechtenstein zu Seelsor 
gern wollen; wo thut eine wahrhaft 
aufgeklärte Geistlichkeit mehr Noth, 
als eben dort? Steht nicht dies Länd- 
chen wenigst ein Jahrhundert allen 
andern nach in jeder Beziehung? — 
Genug: ich sehe erst, statt einen trauli 
chen Brief geschrieben zu haben, mich 
über Gegenstände ausgesprochen, die 
ich gar nicht erwähnen wollte, u. ver- 
gass vielleicht, was ich Anfangs schrei 
ben wollte; ich bitte ab; allmählig 
werde ich nachtragen. Beehren Sie 
mich bald mit einem schriftlichen 
Beweise, dass Sie gegenwärtige Zeilen 
erhalten, dass Sie an mich denken, u. 
die alte wohlwollende Gesinnung noch 
haben, auf die ich immer viel Gewicht 
gelegt, u. Vertrauen. 
Missbrauch meiner Offenheit befürch 
te ich von Ihnen nicht. Über den 
Einschluss, den Sie mir doch nicht 
verübeln wollen, mich erklärend, bitte 
ich Sie, denselben sicher übermitteln 
zu wollen: sollte aber die Person etwa 
nicht mehr leben, so schicken Sie ihn 
mir wieder. 
Grüssen Sie mir Ihre Geliebte, u. wenn 
es schicklich, melden Sie mir meine 
Empfehlung an H. Pfr u. Commissar 
in Schaa. 
Lebert Sie wohl! Genehmigen Sie die 
Versicherung meiner wahren Hoch 
achtung u. Ergebenheit, womit geharrt 
Ihr 
ergebenster Vetter Wolfinger Pfr. 
St. Peterzell am 21 Oct. 1830
	        

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