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Hexenland Liechtenstein
Zur Zahl der Hinrichtungen bei den Verfolgungen zwischen 1648 und 1680
Manfred Tschaikner
Die Grafschaft Vaduz und die Herr
schaft Schellenberg, die Vorläufer
territorien des heutigen Fürstentums
Liechtenstein, zählen im internatio
nalen Vergleich zu den Gebieten, die
von den Hexenverfolgungen beson
ders stark betroffen waren. Vaduz hat
te deshalb schon im 17. Jahrhundert
weitum einen schlechten Ruf als
«Hexenland» 1 . In einerneueren Über
sicht über die europäischen Verfol
gungen gelten die liechtensteinischen
Prozesse zwischen 1648 und 1680 als
die grössten Hexenjagden dieser Zeit
im deutschsprachigen Raum. An
zweiter Stelle steht der bekannte Zau
berer-Jackl-Prozess im Hochstift
Salzburg, wo zwischen 1677 und 1681
mit etwa 140 Personen nur ungefähr
halb so viele Opfer hingerichtet wur
den, wie in Liechtenstein ums Leben
gekommen sein sollen. 2
Vaduz und Schellenberg, die von einer
Seitenlinie der Grafen von Hohenems
regiert wurden, wiesen im Bereich des
Hexenwesens zwei herausragende Be
sonderheiten auf. Dazu zählte einer
seits die Tatsache, dass alle Urteile der
Prozesse in den Jahren 1679/80 durch
kaiserlichen Beschluss für ungültig
erklärt wurden, was letztlich den An-
stoss für die sonst selten erfolgte Ab
setzung eines reichsfreien Landesher
ren und den Übergang der Territorien
an das Haus Liechtenstein bildete. 3
Zum zweiten fällt die aussergewöhn-
lich hohe Intensität der Verfolgungen
auf. In Liechtenstein sollen mit 300
verbrannten Personen zehn Prozent
der Einwohnerschaft hingerichtet wor
den sein. 4
Über das Ende der Hexenprozesse
und das damit verbundene Salzburger
Rechtsgutachten von 1682 sind wir
durch die Arbeiten Otto Segers aus
führlich unterrichtet. 5 Von ihm stam
men auch die Angaben über die Zahl
der Todesopfer bei den liechtensteini
schen Hexenprozessen zwischen 1648
und 1680, die von der Landeskunde 6
und der Hexenforschung 7 allgemein
übernommen wurden. Da der Cha
rakter der Verfolgungen nicht unwe
sentlich mit ihrem quantitativen Aus-
mass zusammenhängt, sollen diesem
schlecht dokumentierten Aspekt 8 im
folgenden einige kritische Überlegun
gen gelten.
Aus den erhaltenen Unterlagen geht
hervor, dass in den Jahren 1679 und
1680 44 der 122 angeklagten Personen
hingerichtet wurden. Die Anschuldi
gungen gegenüber 85 Delinquenten
enthalten Hinweise auf deren Ver
wandtschaft mit Personen, die in frü
heren Prozessen exekutiert worden
waren. Dadurch sind 90 weitere To
desopfer dokumentiert. 9 Insgesamt
lassen sich also 134 Hinrichtungen
bei den liechtensteinischen Hexenver
folgungen zwischen 1648 und 1680
archivalisch nachweisen.
Was führte Otto Seger dazu, diese
Zahl auf etwa 300 Personen zu erhö
hen? Seine Auffassung stützte sich
zunächst auf eine Bemerkung in ei
nem Brief derjenigen Personen, die
durch eine Eingabe bei der Inns
brucker Regierung den Stein gegen
die unrechtmässigen Verfahren ins
Rollen gebracht hatten. Sie schrieben
an den Fürstabt von Kempten, den
kaiserlichen Kommissar, unter ande
rem, dass «die ungerechten Prozesse,
die schon über dreissig Jahre währen,
gegen dreihundert Personen zum Op
fer gehabt hätten» 10 . Unter dem Be
griff «Opfer» sind jedoch keineswegs
nur «Todesopfer» zu verstehen. Als
Opfer haben nicht nur die Hingerich
teten, sondern auch jene Personen zu
gelten, welche die Prozesse mit unter
schiedlichen, aber zumeist schweren
Folgen überlebten. In vielen Fällen
war die Hinrichtung nicht die härteste
Auswirkung der Hexenprozesse. Zu
deren Opfern zählten nicht zuletzt die
Familienmitglieder und Erben, die
um Hab und Gut gebracht wurden.
Gerade den Schreibern des zitierten
Briefes war daran gelegen, den noch
lebenden Opfern der Hexenprozesse
zu helfen. Deren Anteil belief sich
1680 auf beinahe zwei Drittel der An
geklagten.
Zur Bestärkung seiner Auffassung be
züglich der Anzahl der Todesopfer
führte Seger weiters eine Stelle aus
einem Kommissionsbericht an. Sie
lautet: «Es beklagen sich die Nachge
lassenen der Hingerichteten, so über
300 Personen, wegen zugefügten
Schimpfes und Schadens über alle
Massen.» 11 Für Seger bildeten diese
Darlegungen eine amtliche Bestäti
gung seiner Zahlenangaben. Sie kön
nen jedoch mit mindestens ebensoviel
Berechtigung dahingehend verstan
den werden, dass die Gruppe der
Nachgelassenen über 300 Personen
umfasste.
Mit den von Otto Seger angeführten
Quellenstellen allein lässt sich die
hohe Zahl an Hingerichteten also
nicht stichhaltig belegen. Wie die
Brief- bzw. Berichtauszüge richtig zu
interpretieren sind, hängt wesentlich
von der Einschätzung der archiva
lisch überlieferten Anzahl der Todes
opfer ab.
Dabei gilt es zu entscheiden, welcher
Stellenwert den Erwähnungen von
«Hexen-Verwandtschaften» in den
gerichtlichen Anschuldigungen zu
kam. Bildeten sie nur ein mitunter zu
vernachlässigendes Detail am Rande,
oder spielten familiäre Verbindungen
mit rechtmässig überführten Hexen
eine wichtige Rolle? Wir wissen, dass
die Verwandtschaft mit vermeintli
chen Hexenpersonen nicht nur bei
den volkstümlichen Bezichtigungen
von grosser Bedeutung war. 12 Bei den
liechtensteinischen Verfolgungen von
1679/80 soll bereits der Hinweis dar
auf eine Art von Vorverurteilung dar
gestellt haben, der nicht mehr zu
entrinnen war. 13 Man muss deshalb
davon ausgehen, dass die in den ver-