Volltext: Balzner Neujahrsblätter (1995) (1995)

nun die Behörden wählen, die von der 
Gemeindeversammlung kontrolliert 
wurden. Diese entschied Sachfragen 
in Abstimmungen. Die Gemeinden 
verwalteten ihr Vermögen selbst. Die 
alle zwei Jahre neu gewählten Ge 
meindebehörden bestanden aus dem 
Richter (Vorsteher) und den Ge 
schworenen (Gemeinderäte). Sie 
waren für bestimmte Aufgabenberei 
che zuständig, etwa für die Aufsicht 
über Wald, Feld, Zäune, Feuer, 
Strassen und Wuhrbauten. Der 
Säckelmeister amtete als Kassier; er 
verwaltete die Kasse und zog die Steu 
ern ein. Erst seit 1941 muss der Kas 
sier nicht mehr Gemeinderat sein; er 
wurde zum Gemeindebediensteten 
umfunktioniert. Grundlage der heuti 
gen modernen Gemeinde ist das 
Gemeindegesetz von 1959. 
Stationen des Wandels 
Liest man Beschreibungen der Ge 
meinde Balzers aus dem letzten Jahr 
hundert, etwa aus der Feder von 
Landvögten oder durchreisenden 
Fremden, so gewinnt man den Ein 
druck eines kleinen, etwas armseli 
gen, von Unbill aller Art geplagten 
Ortes, dessen Bevölkerung eine be 
dürfnislose und bescheidene Existenz 
fristete. Das Einkommen stammte 
aus dem Fuhrwerk und den Vor 
spanndiensten über die St. Luzien- 
steig nach Maienfeld, aus etwas Vieh 
zucht, Weinbau und Landwirtschaft. 
Die landwirtschaftlichen Arbeiten 
wurden fast ganz von den Frauen be 
sorgt. 
Die beiden Ortsteile Mäls und Balzers 
waren geographisch durch ein gros 
ses sumpfiges Riet getrennt. Diese ört 
liche Trennung ist, wie zeitgenössi 
sche Bilder und Fotos zeigen, bis in 
die zweite Hälfte unseres Jahrhun 
derts hinein erhalten geblieben und 
noch heute sichtbar. Die beiden Orte 
waren in eigenen, zum Teil noch exi 
stierenden Genossenschaften organi 
siert. Zeitweise wurde auch die Schu 
le gesondert geführt. Die mündliche 
Überlieferung will sogar wissen, dass 
auch mentalitätsmässige Unterschie 
de zwischen Mälsnern und Balznern 
bestanden hätten. Die Einwohner 
schaft von Mäls habe das südlich-ro 
manische Temperament vertreten, 
während die Bevölkerung von Balzers 
durch nördlich -alemannische Eigen 
schaften charakterisiert gewesen sei. 
Wenn dies stimmt, könnte man speku 
lieren, dass sich die in spätrömisch 
frühmittelalterlicher Zeit einwan 
dernden Alemannen in Balzers ange 
siedelt hätten und die damals einhei 
mische romanische Bevölkerung in 
Mäls ansässig gewesen wäre oder sich 
dorthin zurückgezogen hätte. Wie 
sich das auch immer verhalten haben 
mag, heute sind die Unterschiede ni 
velliert und verschwunden, auch dies 
eine Folge des Wandels. Viele Balzner/ 
innen wohnen heute in Mäls, viele 
Mälsner/innen in Balzers. Ein bewusst 
gemachter Schritt zum Zusammen 
wachsen der Dorfteile Mäls und 
Balzers war der Entscheid zu Anfang 
unseres Jahrhunderts, die Gemeinde 
gebäude mit Zentrumsfunktionen 
zwischen den beiden Ortsteilen zu er 
richten. 
Der Eindruck, den die alten Berichte 
über unsere Gemeinde vermitteln, be 
stätigt sich auch in den ersten Jahr 
zehnten unseres Jahrhunderts, sei es 
durch schriftliche Zeugnisse oder 
durch die mündlichen Erzählungen 
der ältesten Generation. In einer Bro 
schüre, die 1992 anlässlich einer Aus 
stellung alter Gegenstände erschienen 
ist, heisst es, dass Balzers vor 70 Jah 
ren «kaum ein Fahrrad, kein Auto, 
keinen Traktor, kein Radio, kein Fern 
sehen, kein Bad, keine asphaltierte 
und beleuchtete Strasse hatte, die 
Petrollampe noch gängig war, die 
elektrische Kraft in den Anfängen 
steckte, jedes Kleidungsstück mehr 
mals geflickt wurde, nur Stube und 
Küche geheizt waren». 
1966 wurde im Jahresbericht der Ge 
meinde festgehalten, dass wir «in ei 
ner Dorfgemeinschaft leben, in der 
das Gefühl der Zusammengehörig 
keit, das Wissen um eine Gemein 
schaft vorhanden ist. Es ist dies in der 
heutigen Zeit leider nicht mehr so 
selbstverständlich, und es ist notwen 
dig, dass wir diese Werte wieder ver 
mehrt pflegen. Anderseits ist die Ge 
meinde nicht für alles da, sie soll nur 
dort einspringen müssen, wo die pri 
vate Initiative nicht mehr weiter 
kommt oder nicht ausreicht und es 
(nach) einer grösseren Koordination 
ruft». 
Im Kontrast dazu wird in einer 
Gemeindeschrift 1994 unterstrichen, 
dass Balzers heute eine bestausgebau- 
te Infrastruktur besitze: «Schulen, 
Gemeindehaus, Alters- und Pflege 
heim, Mehrzweckgebäude, Vereins 
räumlichkeiten, Jugendzentrum, ein 
Haus für die Pfarrei, Anlagen für 
Sport und Freizeit und weitere Gebäu 
de stehen der Einwohnerschaft zur 
Verfügung. (...) Diese äusseren Mög 
lichkeiten müssen in den kommenden 
Jahren im Interesse einer qualitativen 
Verbesserung des Zusammenlebens, 
des dörflichen Gemeinsinnes, des 
Miteinanders und auch der persönli 
chen und individuellen Lebensver 
besserung genutzt werden. Es wird 
darum gehen, die Gemeinde im Be 
reich der inneren Strukturen zu kräf 
tigen und zu fördern. Balzers soll ein 
Dorf sein, in dem einerseits eine indi 
viduelle Lebensart möglich ist, in dem 
aber auch Gemeinsamkeit und Ge 
meinsinn stark entwickelt sind, und in 
dem Solidarität untereinander wich 
tig ist und auch praktiziert wird». 
Die Bemerkungen deuten an, dass 
zwischen den drei Momentaufnah 
men - dem wirtschaftlich armen Dorf 
Balzers-Mäls 1920, dem 1966 schon 
spürbaren Verlust an Gemeinsinn und 
den unausgeschöpften Möglichkeiten 
der materiell reichen Gemeinde von 
1994 - tiefgreifende Prozesse des Wan 
dels und der Veränderung in allen 
äusseren und inneren Bereichen vor 
sich gegangen sind. 
Dieser Wandel ist nicht eine für 
Balzers spezifische Erfahrung, son 
dern hat fast universellen Charakter 
und ist damit auch für andere Ge 
meinden des Landes - wenn auch in 
unterschiedlichem Masse - gültig. Der 
Prozess vollzog sich nicht organisch 
von innen, sondern unter dem Druck 
äusserer Bedingungen und in über 
stürzter Weise; entsprechend negativ 
konnten die Konsequenzen sein. Auf 
der anderen Seite jedoch brachte und 
bringt dieser Wandel Gewinn auf ver 
schiedenen Feldern: Offenheit, viele 
Möglichkeiten, Toleranz, bessere 
Schul- und Bildungschancen sowie 
eine gegenüber früheren Zeiten un 
vergleichliche Besserstellung im ma 
teriellen Bereich. Insgesamt jedoch 
wurde das Leben in seiner gesamt 
kulturellen Dimension, wie es der 
Volkskundler Paul Hugger formuliert, 
«nivelliert, kommerzialisiert und ra 
tionalisiert». Die sichtbare, ja revolu 
tionäre Veränderung der äusseren 
Lebenswelt bewirkte den vielleicht
	        

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