Volltext: Balzner Neujahrsblätter (1995) (1995)

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Ein Dorf im Wandel 
Anmerkungen und Gedanken 
Arthur Brunhart 
Das zeitgenössische Schlagwort vom 
Wandel und der Veränderung alles 
Bestehenden ist heute in aller Munde, 
und niemand wird bestreiten, dass die 
moderne Zivilisation grundlegende 
Veränderungen, teilweise sogar den 
Zerfall der traditionellen dörflichen 
Strukturen und des kulturellen Le 
bens im umfassenden Sinne bewirkt. 
In einem rasant verlaufenden Prozess 
veränderte sich das altvertraute Dorf. 
Überkommenes Brauchtum ver 
schwand, lokale Besonderheiten sind 
mehr und mehr nur noch historisch 
fassbar, alte Gewohnheiten des Mit 
einanders innerhalb dörflicher Ge 
meinschaften gehen verloren. Verän 
derung ist überall auszumachen, sei 
es in einer kaum merklichen, allge 
meinen Verflachung der Mundart 
oder in der Nachahmung und Aus 
breitung moderner, halbstädtischer 
Lebensformen und Denkweisen. 
Es wird nicht zu Unrecht beklagt, dass 
dieser Prozess des Wandels mancher 
orts in «eine Verarmung und Verein 
heitlichung des Volkslebens» münde 
(P. Hugger). Die jungen und nach 
kommenden Generationen kennen, 
heisst es, die ehemals verbindlichen 
Sitten, Kriterien und Rahmenbedin 
gungen des Lebens der älteren Gene 
rationen nicht mehr. Sitte und 
Brauch würden überlagert von einer 
uniform angelegten Lebensart, die 
aber, wenn man sie nur vordergrün 
dig betrachtet, als individuell und per 
sönlich ausgerichtet erscheint. 
Zweifellos sind in vielen Bereichen 
negative Seiten des Wandels offen 
sichtlich und unwiederbringliche Ver 
luste zu verzeichnen, gleichzeitig aber 
zeigen sich auf anderen Gebieten sub 
stantielle Vorteile und Verbesserun 
gen, die man kaum für möglich gehal 
ten hatte. Vereinfachend könnte man 
sagen, dass jene Formen sich nicht 
halten können, die veralten, sich über 
lebt haben oder als überlebt betrach 
tet werden. Ihr Sinn geht in einer sich 
ändernden Welt verloren, weil die 
Rahmenbedingungen nicht mehr die 
selben sind. Neue Formen des Zusam 
menlebens und der Organisation ent 
stehen. Diese sind aber - das ist ein 
elementarer Unterschied - in der Regel 
nicht mehr eigenständige Produkte 
der Region oder des Ortes, sondern 
werden als Klischees übernommen 
oder aufgepfropft. 
Wenn wir dörfliches Zusammenleben 
und damit verbundene Kultur als in 
einem ständigen Prozess der Wand 
lung und Verwandlung stehend be 
trachten, so hat dieser Prozess negati 
ve und positive Seiten in der realen 
Lebenswelt wie auch im Bereich des 
menschlichen Zusammenlebens und 
in der Gesellschaft insgesamt. 
Ein geschichtlicher Rückblick 
Die Strukturen der heutigen Gemein 
de Balzers - wie auch der anderen 
liechtensteinischen Gemeinden - sind 
im wesentlichen im frühen 19. Jahr 
hundert entstanden. Vorher hatte eine 
politische Gemeinde mit zentralen 
Aufgabenbereichen im Dienste der 
Bewohner nicht existiert. Die Dörfer 
hiessen Nachbarschaften, deren Be 
völkerung genossenschaftlich mit 
gleichberechtigten Haushalten orga 
nisiert war. Der Haushaltsvorstand 
sprach für das ganze Haus. Die 
Nachbarschaften hatten gemeinsame 
Rechte und Pflichten. Die Gemein 
güter, also etwa Allmeinden, Alpen, 
Auen und Wälder, waren der Besitz 
aller und unterlagen gemeinsamer 
Nutzung, der auf der anderen Seite die 
Pflicht zur Mitarbeit entsprang. Stras 
sen und Wege, Brücken und Zäune, 
Wasserleitungen und Rheinverbauun 
gen mussten in gemeinsamer Anstren 
gung unterhalten werden. Dieses - oft 
ungeliebte und belastende - Gemein 
werk oder Gemeindewerk, das wenige 
Tage oder mehrere Wochen jährlich in 
Anspruch nehmen konnte, musste 
unentgeltlich im Interesse der Ge 
meinde geleistet werden. 
Erst im Zuge von staatlichen Refor 
men wurden die Nachbarschaften im 
Jahr 1808 zu politischen Gemeinden 
im heutigen Sinn aufgewertet. Bal 
zers teilte die mit der Gemeinde 
Triesen gemeinsamen Güter, womit 
die Gemeindegrenzen klar gezogen 
waren. In den meisten liechtensteini 
schen Gemeinden kam es auch zur 
Privatisierung grosser Teile der Ge 
meingüter. Obwohl die Gemeinden 
noch wenig Selbständigkeit besassen, 
wurden ihnen bestimmte Aufgaben 
bereiche übertragen, etwa im Schul 
wesen (Errichtung eines Schulhau 
ses), die Ortspolizei und die Verwal 
tung des Gemeindevermögens. 
Neben den Bürgern und Bürgerinnen 
wohnten in den Gemeinden auch 
Hintersassen ohne Bürgerrecht in ih 
rem Wohnort, also ohne Anrechte an 
den gemeinsamen Gütern. Sie konn 
ten jedoch Nutzen und Anteil daran 
gewinnen, wenn sie das Gemeinde 
bürgerrecht erwarben. Die Einkaufs 
summe war meist sehr hoch ange 
setzt, um Einbürgerungswillige ab 
zuschrecken, weil eine Neueinbür 
gerung eine Verkleinerung des eige 
nen Anteils an den gemeinsamen 
Gütern bedeutete. Mit dem Erlass des 
Gemeindegesetzes im Jahr 1864 
schliesslich erhielten alle Hinter 
sassen das Gemeindebürgerrecht der 
Gemeinde, in der sie gerade wohnten. 
Seit der Mitte dieses Jahrhunderts ist 
der Einkauf in den Gemeindenutzen 
nicht mehr möglich; unsere Vorfah 
ren waren in dieser Hinsicht offener, 
wenn auch nicht immer freiwillig, 
sondern auf mehr oder minder star 
ken Druck von oben. 
Mit der Schaffung der Gemeinde 
autonomie durch das Gemeindege 
setz von 1864 entstanden die Grund 
lagen für die heutige Organisation 
der Gemeinde. Die Bürger konnten
	        

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