Volltext: Balzner Neujahrsblätter (1995) (1995)

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Der alte (oder junge) Mensch ist ei 
nem von aussen gelenkten Medium 
ausgesetzt, das er nur noch passiv re 
zipieren kann und das ihn in keiner 
Weise herausfordert. Bedenkliche 
Auswirkungen sind dann offensicht 
lich, «wenn alte Menschen den Bild 
schirm nicht aus den Augen lassen, 
wenn sie mit Enkelkindern, Freunden 
und Nachbarn sprechen. Die Einweg 
kommunikation mit dem Apparat ver 
hindert konkrete sinnliche Wahrneh 
mung des Gesprächspartners durch 
Berührung und Körperkontakt. Per 
sönliche soziale Beziehungen werden 
durch künstliche ersetzt» (A. Niede 
rer). Es fehlt authentische Kommuni 
kation, und nur innerhalb von Grup 
pen vom Typus Gemeinschaft (z.B. 
Familie) können die Bedürfnisse nach 
Geborgenheit, bedingungsloser Zuge 
hörigkeit, Wärme und körperlicher 
Nähe befriedigt werden. Unsere Kul 
tur, meint Niederer, «steht mit Bezug 
auf das Pro-Kopf-Einkommen und 
die technischen Errungenschaften an 
der Spitze der Entwicklung, krankt 
aber in den grundlegenden sozialen 
Beziehungen an leerem Formalis 
mus, Oberflächlichkeit und Gleich 
gültigkeit, d.h. an sozialer Verar 
mung». 
Kultureller Wandel 
Wie eingehend festgestellt wurde, un 
terliegen unsere reale Welt und die 
Volkskultur einem Prozess der Nivel 
lierung, Kommerzialisierung und Ra 
tionalisierung (P. Hugger). 
Nivellierung 
Die Vereinheitlichung zeigt sich am 
deutlichsten in den Ritualen, Ge 
wohnheiten und Bräuchen an wichti 
gen Stationen des menschlichen Le 
bens: Geburt, Hochzeit, Tod. Diese 
ehemals der Kirche vorbehaltenen 
Rituale der Lebensbegleitung gerie 
ten in einen Veränderungsprozess, als 
die Welt sich zu säkularisieren be 
gann und die Kirche zunehmend an 
den Rand geschoben wurde. Ersatz 
wurde nicht geschaffen. Diese Bräu 
che werden heute fast überall in glei 
cherweise begangen und sind lokaler 
Formen und Besonderheiten entklei 
det. Die Vereinheitlichung zeigt sich 
auch in Ernährung und Kleidung. Wir 
können die gleiche Hose oder die glei 
che Bluse kaufen wie in Paris. Wir 
können hierzulande die gleichen Le 
bensmittel essen wie in irgendeinem 
anderen Teil Europas, dagegen kom 
men die alten lokalen und regionalen 
Gerichte weniger oft auf den Teller. 
Der Nivellierung und der Ab 
schleifung lokal-regionaler Formen 
steht ein Zugewinn an Vielfalt gegen 
über. 
Kommerzialisierung 
Die Kommerzialisierung zeigt sich in 
einer gegenüber früher deutlich ver 
schiedenen Denkungsart, in der 
Karrieredenken und Gewinnstreben 
wichtige Komponenten sind. Man 
muss dabei betonen, dass hierzulan 
de in früheren Zeiten aufgrund der 
Verhältnisse eine Karriere im heuti 
gen Sinne nicht gemacht werden 
konnte und dass die Möglichkeit, Ge 
winne in heutigem Ausmass zu erzie 
len, nicht gegeben war. Das hat sich 
geändert. Ansehen geniesst deshalb 
in doch manchen Fällen nicht mehr 
die Person, die für die Allgemeinheit 
etwas leistet, sondern diejenige, die es 
- mit welchen Mitteln auch immer - zu 
Eigentum und Wohlstand gebracht 
hat. Die materielle Kultur änderte 
sich: Neben berufsbezogenen Bräu 
chen und Sitten verschwanden selbst 
ganze Berufszweige, in Balzers etwa 
Müller, Schmied, Wagner, Sattler 
und Schneider. 
Voraussetzungen der Kommerziali 
sierung sind erhöhte Kaufkraft und 
höheres Einkommen dank Arbeits 
plätzen, Industrialisierung und Dienst 
leistungssektor. Die alte Bevölkerung 
lebte in vorgezeichneten Bahnen, sie 
arbeitete viel, aber ohne Hast und in 
Stetigkeit für ihr schmales Auskom 
men. Altes Brauchtum wird kommer 
zialisiert, was sich am offensichtlich 
sten im Advent und an Weihnachten 
zeigt, wo Nikolaus - der Nikolaus 
brauch wurde erst zu Beginn unseres 
Jahrhunderts in Liechtenstein einge 
führt - und Christkind mit Glitzer und 
Glanz instrumentalisiert werden. 
Neue geschäftsträchtige und umsatz 
versprechende Feiertage wurden im 
portiert oder bestehende verändert: 
Der Osterhase hat in seiner Kräza 
nicht mehr nur Eier, sondern weitere 
Geschenke, der Nikolaus bringt ne 
ben Nüssen und Äpfeln teilweise 
schon Spielwaren; er nimmt das 
Christkind voraus. In den letzten 
Jahrzehnten sind auch Fasnacht und 
Funkensonntag in den Sog der 
Kommerzialisierung geraten, wäh 
rend die alten Fasnachtsbräuche ver 
schwanden und meist schon verges 
sen sind. 
Rationalis ieru ng 
Eine weitere Komponente ist die Ra 
tionalisierung: Das Leben wird zweck 
gerichtet. Überlieferung dagegen ist 
nicht zweckgerichtet, Handwerk 
ebenfalls nicht, aisoverschwindet bei 
des. Bäuerliche Arbeit wurde mecha 
nisiert, industrialisiert und in einem 
raschen Prozess auf wenige Betriebe 
konzentriert. Der ehemalige, in erster 
Linie auf Selbstversorgung ausgerich 
tete Bauernhof ist heute ein profit- 
und leistungsorientierter Landwirt 
schaftsbetrieb; der Nebenerwerbs 
bauer verschwindet. Die Idylle der 
Hirtenbuben und Pfähler, die noch 
vor rund 40 Jahren, als die ersten 
Elektrozäune aufkamen, das Vieh hü 
teten, dabei den ersten Teetabak 
rauchten und sich mit Steckla die Zeit 
vertrieben, ist vorbei. 
Gravierender ist wahrscheinlich der 
Wandel in den Menschen selbst. Das 
naive und direkte Verhältnis zu den 
Dingen geht verloren, Sitte und 
Brauch werden reflektiert. Dabei liegt 
doch der Sinn des Brauchs in seiner 
praktischen Ausübung. Der Mensch 
ist beeinflussbarer, die Richtlinien 
des Lebens werden nicht mehr von der 
Gemeinschaft etwa des Dorfes, son 
dern von apersonalen, fremden Quel 
len bezogen (P. Hugger). Sie wirken 
verpflichtend, weil man nicht «altmo 
disch» wirken möchte. Die früher 
hochgehaltene Erzähl-, Dichtungs 
und Erfindungsgabe wird weniger ge 
pflegt. Der laut Berichten der ältesten 
Generation früher gerade in Balzers 
gepflegte Gesang war ehemals wichti 
ger als heute. Mit dem Gewinn an 
Geschäftigkeit ging ein Verlust an 
Wärme einher. 
Ausblick 
In der Gemeindeschrift «Balzers - un 
ser Dorf» sind der Balzner und die 
Balznerin charakterisiert als Perso 
nen von Bedächtigkeit, mit Sinn für 
Tradition und Offenheit für neue Ent 
wicklungen. Der Balzner schaue nicht 
nur zurück, er schaue sich um. Zum 
Umschauen gehört die Betrachtung 
des Bestehenden mit offenen Augen 
und kritischem Blick. Trotz aller, teil 
weise bewusst leicht überzeichneter
	        

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