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Der alte (oder junge) Mensch ist ei
nem von aussen gelenkten Medium
ausgesetzt, das er nur noch passiv re
zipieren kann und das ihn in keiner
Weise herausfordert. Bedenkliche
Auswirkungen sind dann offensicht
lich, «wenn alte Menschen den Bild
schirm nicht aus den Augen lassen,
wenn sie mit Enkelkindern, Freunden
und Nachbarn sprechen. Die Einweg
kommunikation mit dem Apparat ver
hindert konkrete sinnliche Wahrneh
mung des Gesprächspartners durch
Berührung und Körperkontakt. Per
sönliche soziale Beziehungen werden
durch künstliche ersetzt» (A. Niede
rer). Es fehlt authentische Kommuni
kation, und nur innerhalb von Grup
pen vom Typus Gemeinschaft (z.B.
Familie) können die Bedürfnisse nach
Geborgenheit, bedingungsloser Zuge
hörigkeit, Wärme und körperlicher
Nähe befriedigt werden. Unsere Kul
tur, meint Niederer, «steht mit Bezug
auf das Pro-Kopf-Einkommen und
die technischen Errungenschaften an
der Spitze der Entwicklung, krankt
aber in den grundlegenden sozialen
Beziehungen an leerem Formalis
mus, Oberflächlichkeit und Gleich
gültigkeit, d.h. an sozialer Verar
mung».
Kultureller Wandel
Wie eingehend festgestellt wurde, un
terliegen unsere reale Welt und die
Volkskultur einem Prozess der Nivel
lierung, Kommerzialisierung und Ra
tionalisierung (P. Hugger).
Nivellierung
Die Vereinheitlichung zeigt sich am
deutlichsten in den Ritualen, Ge
wohnheiten und Bräuchen an wichti
gen Stationen des menschlichen Le
bens: Geburt, Hochzeit, Tod. Diese
ehemals der Kirche vorbehaltenen
Rituale der Lebensbegleitung gerie
ten in einen Veränderungsprozess, als
die Welt sich zu säkularisieren be
gann und die Kirche zunehmend an
den Rand geschoben wurde. Ersatz
wurde nicht geschaffen. Diese Bräu
che werden heute fast überall in glei
cherweise begangen und sind lokaler
Formen und Besonderheiten entklei
det. Die Vereinheitlichung zeigt sich
auch in Ernährung und Kleidung. Wir
können die gleiche Hose oder die glei
che Bluse kaufen wie in Paris. Wir
können hierzulande die gleichen Le
bensmittel essen wie in irgendeinem
anderen Teil Europas, dagegen kom
men die alten lokalen und regionalen
Gerichte weniger oft auf den Teller.
Der Nivellierung und der Ab
schleifung lokal-regionaler Formen
steht ein Zugewinn an Vielfalt gegen
über.
Kommerzialisierung
Die Kommerzialisierung zeigt sich in
einer gegenüber früher deutlich ver
schiedenen Denkungsart, in der
Karrieredenken und Gewinnstreben
wichtige Komponenten sind. Man
muss dabei betonen, dass hierzulan
de in früheren Zeiten aufgrund der
Verhältnisse eine Karriere im heuti
gen Sinne nicht gemacht werden
konnte und dass die Möglichkeit, Ge
winne in heutigem Ausmass zu erzie
len, nicht gegeben war. Das hat sich
geändert. Ansehen geniesst deshalb
in doch manchen Fällen nicht mehr
die Person, die für die Allgemeinheit
etwas leistet, sondern diejenige, die es
- mit welchen Mitteln auch immer - zu
Eigentum und Wohlstand gebracht
hat. Die materielle Kultur änderte
sich: Neben berufsbezogenen Bräu
chen und Sitten verschwanden selbst
ganze Berufszweige, in Balzers etwa
Müller, Schmied, Wagner, Sattler
und Schneider.
Voraussetzungen der Kommerziali
sierung sind erhöhte Kaufkraft und
höheres Einkommen dank Arbeits
plätzen, Industrialisierung und Dienst
leistungssektor. Die alte Bevölkerung
lebte in vorgezeichneten Bahnen, sie
arbeitete viel, aber ohne Hast und in
Stetigkeit für ihr schmales Auskom
men. Altes Brauchtum wird kommer
zialisiert, was sich am offensichtlich
sten im Advent und an Weihnachten
zeigt, wo Nikolaus - der Nikolaus
brauch wurde erst zu Beginn unseres
Jahrhunderts in Liechtenstein einge
führt - und Christkind mit Glitzer und
Glanz instrumentalisiert werden.
Neue geschäftsträchtige und umsatz
versprechende Feiertage wurden im
portiert oder bestehende verändert:
Der Osterhase hat in seiner Kräza
nicht mehr nur Eier, sondern weitere
Geschenke, der Nikolaus bringt ne
ben Nüssen und Äpfeln teilweise
schon Spielwaren; er nimmt das
Christkind voraus. In den letzten
Jahrzehnten sind auch Fasnacht und
Funkensonntag in den Sog der
Kommerzialisierung geraten, wäh
rend die alten Fasnachtsbräuche ver
schwanden und meist schon verges
sen sind.
Rationalis ieru ng
Eine weitere Komponente ist die Ra
tionalisierung: Das Leben wird zweck
gerichtet. Überlieferung dagegen ist
nicht zweckgerichtet, Handwerk
ebenfalls nicht, aisoverschwindet bei
des. Bäuerliche Arbeit wurde mecha
nisiert, industrialisiert und in einem
raschen Prozess auf wenige Betriebe
konzentriert. Der ehemalige, in erster
Linie auf Selbstversorgung ausgerich
tete Bauernhof ist heute ein profit-
und leistungsorientierter Landwirt
schaftsbetrieb; der Nebenerwerbs
bauer verschwindet. Die Idylle der
Hirtenbuben und Pfähler, die noch
vor rund 40 Jahren, als die ersten
Elektrozäune aufkamen, das Vieh hü
teten, dabei den ersten Teetabak
rauchten und sich mit Steckla die Zeit
vertrieben, ist vorbei.
Gravierender ist wahrscheinlich der
Wandel in den Menschen selbst. Das
naive und direkte Verhältnis zu den
Dingen geht verloren, Sitte und
Brauch werden reflektiert. Dabei liegt
doch der Sinn des Brauchs in seiner
praktischen Ausübung. Der Mensch
ist beeinflussbarer, die Richtlinien
des Lebens werden nicht mehr von der
Gemeinschaft etwa des Dorfes, son
dern von apersonalen, fremden Quel
len bezogen (P. Hugger). Sie wirken
verpflichtend, weil man nicht «altmo
disch» wirken möchte. Die früher
hochgehaltene Erzähl-, Dichtungs
und Erfindungsgabe wird weniger ge
pflegt. Der laut Berichten der ältesten
Generation früher gerade in Balzers
gepflegte Gesang war ehemals wichti
ger als heute. Mit dem Gewinn an
Geschäftigkeit ging ein Verlust an
Wärme einher.
Ausblick
In der Gemeindeschrift «Balzers - un
ser Dorf» sind der Balzner und die
Balznerin charakterisiert als Perso
nen von Bedächtigkeit, mit Sinn für
Tradition und Offenheit für neue Ent
wicklungen. Der Balzner schaue nicht
nur zurück, er schaue sich um. Zum
Umschauen gehört die Betrachtung
des Bestehenden mit offenen Augen
und kritischem Blick. Trotz aller, teil
weise bewusst leicht überzeichneter