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Autorität waren streng, ebenso Ge
horsam und Unterordnung. Man war
«niemals allein, aber man war auch
nie einsam, weder in der Freude noch
bei Alter, Krankheit und Tod»
(A. Niederer).
Die früher gemeinschaftlichen Arbei
ten werden heute von den Gemeinde
angestellten ausgeführt. Damit ver
bunden ist ein Verlust, weil Gemein
schaftsarbeiten unter Nachbarn und
Freunden eine überaus wichtige so
ziale Bedeutung hatten. Heute nimmt
man an gemeinsamen Arbeiten und
Aktivitäten teil, wenn man gerade
«nichts Wichtigeres zu tun» hat und
wenn «nichts versäumt» wird. In die
ser Einstellung liegt eine gewisse Ge
fahr für Gruppen, Parteien und Verei
ne, die gerade in Balzers noch stark
und zahlreich sind und die viele priva
te Initiativen tragen. Eine Reaktivie
rung des früher auch materiell wichti
gen Gemeinwerkes in neuer Form
könnte dank der gemeinschafts
fördernden Wirkung zur Lösung auch
anderer Gemeindeprobleme beitra
gen.
Das Dorf als Gemeinschaft veränderte
sich mit der Zunahme individualisti
scher Gesinnung. Die Familie wurde
auf die Kernfamilie reduziert. Die
Zahl der erweiterten Familienhaus
halte ging deutlich zurück. Die erhöh
ten Raumansprüche, die für jedes
Kind ein eigenes Zimmer forderten,
waren mit ein Grund zur weitgehen
den Aufgabe der Dreigenerationen
haushalte. Damit verbunden war
gleichzeitig ein allgemein feststellba
rer Rückzug ins Familienleben, in die
abgeschirmte Welt der Kleinfamilie.
Das Private wurde kultiviert und gilt
heute als zentraler Aspekt der moder-
Abb. oben: Am Sonntag beim
Brunnen im Höfle (ca. um 1961)
(v.l.n.r.: Josef Vogt (dr Tonele Buab),
Anton Nigg jun., Jakob Biedermann,
Gebhard Kaufmann (dr lang Gäbe),
Eugen Brunschwiler
(Enkel von Anton Nigg sen.),
Anton Nigg sen. (dr Seile Tone),
Franz-Josef Frick (dr Franz Sepp),
Christian Brunhart
Abb. unten: Beim Jugendtreff
Scharmotz, 1993
nen Gesellschaft; der früher eher
strenge Konformismus in der Lebens
art ist einer Vielfalt des individuellen
Ausdrucks gewichen.
Soziale Verarmung
Arnold Niederer hat in seinen Unter
suchungen des Wandels in Gemein
den des alpinen Raums eine deutliche
Zunahme an «sozialer Verarmung»
festgestellt. Zweifellos bedeutet die
Zunahme von Individualismus und
die Kultivierung von Privatsphäre im
Gefolge der Leistungs- und Konsum
gesellschaft den Bruch alter Kommu
nikationsformen und damit die Ver-
unmöglichung ehemals funktionie
render Sozialkontakte.
So waren, wie schon erwähnt, die heu
te vom Verkehr beherrschten Strassen
ehemals wichtige dörfliche Kommu
nikationsorte, wo man Dorfbewoh
nern, Durchreisenden und Menschen
von weiter her begegnete. Die Mobili
tät und damit die Konzentration der
Versorgungswirtschaft auf wenige
ausserhalb liegende Einkaufszentren
haben in manchen Ortschaften die
ehemals zahlreich vorhandenen Dorf
läden verdrängt. In dieser Hinsicht hat
sich Balzers als vergleichsweise resi
stent erwiesen. Die Dorfgeschäfte hat
ten (und haben) eine bedeutende
Funktion im Sinne der dörflichen Öf
fentlichkeit. Eine solche soziale und
sachliche Funktion im Alltagsleben
hatten früher auch die Dorfbrunnen,
die heute auf den Aspekt der Dorf
verschönerung reduziert sind. Der auf
manchen Gebieten spürbaren sozia
len Verarmung versucht die Gemein
de durch Veranstaltungen wie Alters
ausflug, Sporttag und Gemeinde
wanderungen entgegenzutreten. Vom
gleichen Gedanken geleitet sind auch
der Bau von Treffpunkten für alte und
junge Einwohner/innen und die starke
Förderung der Vereine, die wenig
stens teilweise in der Gemeinde eine
wichtige soziale Rolle spielen.
Das Alter
Die ersten Opfer der sozialen Verar
mung sind die alten Menschen, die in
der ehemaligen Dorfgesellschaft
wichtige und unverzichtbare Funktio
nen innehatten. Sie waren Glieder in
den Familien, die durch Selbstversor
gung lebten, sie übernahmen Aufga
ben etwa in der Erziehung. Heute wer
den dafür Tagesstätten errichtet und
Tagesmütter (Väter?) gesucht. Es exi
stierte in der alten familiären Produk
tionsgemeinschaft keine «Altersgren
ze», sondern nur der «allmähliche
Übergang von schwereren zu leichte
ren, aber stets nützlichen Beschäfti
gungen». Es galt vielerorts als Ehren
sache der Familien, die alten Famili
enmitglieder bis zum Lebensende im
Haus zu behalten. Allerdings darf die
ses Bild nicht idealisiert werden. Es
gab oft genug auch Fälle, wo zur Fami
lie gehörende alte Leute - etwa unver
heiratet gebliebene Onkel und Tanten,
die keine eigenen Haushalte gegrün
det hatten (oder gründen konnten) -
nur noch als ungern im Haus behalte
ne und an den Rand geschobene
«Kostgänger» geduldet wurden, so
bald sie dem produktiven Arbeits
prozess entzogen und damit zu einem
belastenden «Kostenfaktor» gewor
den waren. Mit der Steigerung der
wirtschaftlichen Möglichkeiten hat
sich diese Situation verändert. Der
Gedanke an eine ausserhäusliche Ver
sorgung der Alten, deren Mithilfe und
Rat man nicht mehr benötigte und die
ausserdem oft auch fachkundige Pfle
ge brauchten, wurde bald nicht mehr
als abwegig angesehen. Mit der Über
nahme neuer Aufgaben durch Ge
meinde und Staat auf dem Gebiet der
Altersvorsorge und Altenpflege hat
sich die Situation trotz möglicher Ver
luste gegenüber den früheren Zeiten
der Armut massiv verbessert. Die so
ziale Sicherheit insgesamt ist ein ganz
entscheidender Gewinn der moder
nen Gesellschaft.
Rolle der Medien
Eine andere Komponente ist der
Medienkonsum, der bisherige soziale
Beziehungen ganz eindeutig unter
gräbt. Das im Menschen unstillbar
vorhandene Bedürfnis nach Unterhal
tung wird heute von Medien befrie
digt, während man früher die Abende
eher in der Familie, mit Nachbarn und
Freunden verbracht hat. Die noch im
mer wichtigen dörflichen Feste, an
denen früher möglichst alle Bewoh
ner/innen zur gleichen Zeit am glei
chen Ort teilnahmen, haben an Be
deutung verloren. Grund ist, wie Ar
nold Niederer feststellt, die Massen
kultur, die «in alle Ritzen des tägli
chen Lebens eindringt» und den frü
her deutlichen Unterschied zwischen
Festtag und Alltag verwischt und auf
hebt.