13
Insgesamt ist die in Balzers wie an
dernorts beklagte Zersiedelung eine
der nachhaltigen und fragwürdigen
Folgen des Wirtschaftswachstums
der Nachkriegszeit. Solche Folgen
sind - negativ betrachtet - ausserdem
die Landverschwendung durch die
Zersiedelung sowie die geographi
sche Verteilung der Arbeitsplätze, die
einen täglichen Nomadismus be
trächtlicher Teile der Dorfbevölke
rung vom Wohn- zum auswärtigen
Arbeitsort bedingt. Die erforderlichen
Verkehrsanlagen (Strassen, Parkplät
ze, etc.) fordern einen hohen ökologi
schen Preis, auch weil verbleibende
naturnahe Räume dadurch gleichsam
parzelliert und voneinander abge
grenzt werden.
Behörden
Das Wachstum und die zunehmende
Differenzierung in jedem Bereich üb
ten einen Druck auf die verantwortli
chen Behörden aus, die einen regle
mentierenden Einfluss nehmen
mussten. An vielen Ecken und Enden
wurden Probleme entdeckt, welche
direkte Folge der wirtschaftlichen Ex
pansion und der dadurch bewirkten
Veränderungen von Wirtschaft und
Gesellschaft waren. Auch die Gemein
de musste innert weniger Jahre einen
Behördenapparat und eine funktio
nierende Infrastruktur aus dem Bo
den stampfen. Dies alles hat zur Folge,
dass der Mensch zwangsläufig büro
kratisch erfasst, in regulierte Proze
duren verwickelt und manchmal als
Nummer oder gar als «Fall» behan
delt und ablegt wird.
Mobilität
Mit dem wirtschaftlichen Auf
schwung und der Siedlungsvergrös-
serung Hand in Hand ging der Zuge
winn an Mobilität, die sich vorder
gründig in erster Linie im Moto
risierungsgrad der Gesellschaft aus
drückt. Für manchen erscheint es
schon unzumutbar, zu Fuss in die
Kirche oder ins Wirtshaus zu gehen
oder nicht mit dem eigenen Auto an
den Arbeitsplatz fahren zu können.
Zählte man 1963 in Balzers 215 Perso
nenwagen, waren es 1970 schon 627,
1980 fast 1’400 und 1993 schliesslich
fast das Zehnfache von 1963, nämlich
2'032. Man ist mobil zwischen den
Orten von Wohnen, Arbeit, Konsum,
Freizeit und Ferien.
Die mit dem wirtschaftlichen Auf
schwung sich verstärkende Motori
sierung bedingte einen raschen Aus
bau des Strassennetzes. Die unver
zichtbare Strasse, früher ein Ort der
Kommunikation und der Begegnung,
wird heute als eine Quelle der Gefähr
dung und Belästigung empfunden.
Noch vor rund 30 Jahren war der
grösste Teil der Strassen und Wege
ohne Asphaltbelag und ohne Pflä-
sterung, was ab etwa 1960 schnell
nachgeholt wurde. Auf der Grundlage
einer generellen Strassenplanung
wurden neue Strassen errichtet, alte
verbreitert und mit Trottoiren verse
hen. Den Rhein überspannte bald
eine neue Brücke, der Durchgangs
verkehr konnte «dank» einer Um
fahrungsstrasse aus dem Dorf gezo
gen werden. Das Auto wurde vom
Luxusgut zum Allerweltsgut, dessen
Kauf heutzutage für viele keine Ko
stenfrage mehr ist. Das Auto ermög
lichte den Pendlerverkehr, das Ein
käufen im Ausland, es befreite gleich
sam aus der dörflichen Enge. Die
Autozahl in Balzers hat sich seit den
frühen Sechzigerjahren fast verzehn
facht, während die Bevölkerung
«nur» um rund 80% Prozent an-
wuchs, sich die Zahl der Wohnungen
aber immerhin fast verdreifachte -
Zahlen, die wichtige Indikatoren des
gesamtgesellschaftlichen Wandels
sind. Einer der zentralen Aspekte der
Veränderung des Lebensstils dank
der Mobilität ist die Aufhebung des
ehemals engen Bezuges zwischen
Wohn- und Arbeitsplatz.
Die neue Mobilität hatte neben dem
Aspekt der physischen Fortbewegung
verschiedene andere Konsequenzen.
Jeder Ort wurde leicht und fast jeder
zeit erreichbar. Die Einkaufszentren
in der nahen Schweiz konnten aufge
sucht werden, dafür gingen die früher
in Balzers recht zahlreichen kleinen
Dorfläden teilweise ein. Das Konzert
in Feldkirch, St. Gallen oder Chur
konnte jederzeit besucht werden.
Man war nicht mehr auf die
Vereinsveranstaltungen im Dorf an
gewiesen, zumal sich gleichzeitig die
Fernsehapparate, die einen trügeri
schen Zugang zur weiten Welt vermit
telten, in den Stuben auszubreiten
begannen. Die Notwendigkeit, sich
mit dem direkten Nachbarn ausein
anderzusetzen, wurde immer weni
ger zwingend. Auch der Bewohner in
anderen Gemeinden wurde zum
Nachbarn, leicht erreichbar mit dem
Auto oder mittels des in den
Sechzigerjahren jede Haushaltung er
obernden Telefonapparates. Eine
weitere Folge der gesteigerten Mobili
tät besteht in der Lockerung privater,
familiärer und lokaler Bindungen. Die
Beziehungsnetze von Verwandt
schaft, Freundschaft und Kollegialität
konnten über einen immer weiteren
Raum gespannt werden.
Natur
Die beschriebene Entwicklung setzte
die Natur- und Kulturlandschaft
rasch und zunehmend unter Druck.
Im Bereich der Gemeinde Balzers ver
stärkte sich dieses Problem punktuell
noch durch die verstärkte Ausbeutung
von Rheinkies, was abträgliche Fol
gen auf den Grundwasserstand hatte
und damit auf das Bestehen der Auen.
Naturschutzgebiete wurden geschaf
fen, die ehemals reich fliessenden und
dann ausgetrockneten Bäche und
Giessen künstlich (aber erfolgreich)
wiederbewässert. Lokale Wasserver-
sorgungs- und Kanalisationsprojekte
befassten sich mit den Fragen um
Wasser und Abwasser; in regionalen
Verbünden wurden die Probleme der
Abfallentsorgung angegangen.
Sozialer Wandel
Der Aufbau und das Erleben der neu
en dörflichen Gesellschaft hat ver
schiedene traditionelle Verhaltens
weisen verändert, was uns nicht im
mer bewusst ist. Der eine oder andere
Bereich soll hier gestreift werden,
wobei diese Bereiche nicht speziell
unser Dorf Balzers betreffen, sondern
- weil die Prozesse der Veränderung
und des Wandels übergreifend, ja uni
versell sind - auch für andere Gemein
den, Regionen und Länder zutreffen.
Insgesamt werden sie mit den Begrif
fen Wohlfahrtsstaat und Wohlstands
gesellschaft charakterisiert, die als
von Individualismus und einer Ab
kehr vom Gemeinschaftsdenken ge
kennzeichnet erscheinen.
Gemeinschaft und Kommunikation
Die alte Dorfgemeinschaft, die viel
fach den Ruf eines Ortes der Enge und
des geistigen Zwanges hat, gestattete
dem Einzelmenschen kaum Platz für
eine Privatsphäre; das Familienleben
und das Leben waren bestimmten
Regeln unterworfen. Hierarchie und