Was ist Satire?
„Was fängt der Arme wol aus Ubermuth nicht an,
Wenn er mehr hat als er auff einmahl essen kan;
Der reiche Wuchrer hat hergegen niehmahls gnug,
Er denckt auff nichts als auff Betrug,
Und macht aus Unrecht thun ein Spiel.
Die schnóde Welt verübt so manche Missethat,
Die weil der Arme viel zu viel,
Der Reiche viel zu wenig hat." (Wernicke, 1909)
In diesem Epigramm schildert Christian Wernicke die unterschiedlichen
Auffassungsweisen beziehungsweise das gegensátzliche Verständnis von
Mássigkeit zwischen Arm und Reich. Reichtum, so Wernicke, kann zu Hochmut
und Masslosigkeit führen, sodass der Sinn für Genügsamkeit beeintráchtigt
werden kann. Gleichzeitig führt er dem Leser die mit der Armut einhergehenden
Gewóhnung an Entbehrungen beziehungsweise die armutsbedingte Mássigkeit vor
Augen und setzt diese in Kontrast zur mit dem Reichtum zusammenhángenden
Ungenügsamkeit. Reichtum führt zu einem verfehlten Verständnis für
Beschránkung bis hin zu Habgier, wohingegen sich Armut begünstigend auf die
Bescheidenheit auswirkt. Christian Wernicke verschleierte den unschônen
Missstand beziehungsweise die Kernaussage dieses Epigramms hinter einer
ásthetischen Fassade lyrischer Formulierungen, doch nichtsdestotrotz verfügt das
Epigramm über eine prágnante Aussagekraft.
Wie sich gezeigt hat, sind die literarischen Anwendungsbereiche und
Darstellungsweisen der Satire sehr vielfältig. Neben diesen drei behandelten
Literaturarten, kann die Satire auch in praktisch jeder anderen literarischen Form
Anwendung finden. In Allegorien beispielsweise wurden abstrakte Laster durch
eine konkrete Gestalt verbildlicht. Ähnlich wie in der Allegorie werden auch in der
Fabel menschliche Eigenschaften und Schwächen durch zumeist konkrete
tierische Gestalten verkörpert. Die satirische Fabel spielt oftmals mit der Absicht,
eben jene nichtmenschlichen Charaktereigenschaften zu enthüllen, indem sie auf
eine tierische Gestalt übertragen werden. Ebenso lassen sich auch im Roman
Elemente der Satire nachweisen. Diese können sich in Form von überraschenden
Beleuchtungen gewisser Themen oder Pointen äussern, mit welchen der Autor
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