Liechtensteinische Geschichtswissenschaft
Liechtenstein ist trotz seiner geringen Grösse ein eigener Staat, komplett
mit Staatsgebiet, Staatsvolk und staatlichen Institutionen. Seine Souverä-
nität führt dazu, dass man sich im Land ständig fragt, ob es denn etwas
spezifisch Liechtensteinisches gebe und worin es bestehe? Die liechten-
steinische Identität — wenn es denn eine gibt — wurzelt zu grossen Teilen
in der Geschichte des Landes, handle es sich nun um die politischen
Kämpfe, die man erlebt hat (zum Beispiel um die Einführung des Frau-
enstimmrechts), oder um jene beruflichen Anstrengungen, mit denen
man selbst zum allgemeinen Wirtschaftsaufschwung beigetragen hat.
Das liechtensteinische Selbstverständnis unterscheidet sich über weite
Strecken von den Identitätserfahrungen, die man in den umliegenden
Staaten gemacht hat, und diese souveränitätsspezifischen Geschichten
wollen immer wieder thematisiert sein: Was ist fremd? Was ist eigen?
Existiert gar eine eigenständige liechtensteinische Mentalität? Eine ei-
gene Sprache oder zumindest ein eigener Dialekt? Oder ist «der» Liech-
tensteiner oder «die» Liechtensteinerin eine klassische Mischung, trägt er
oder sie, wie es ein Sprichwort wissen will, auf der einen Seite das Herz
des Österreichers, auf der anderen Seite das Portemonnaie des Schwei-
zers? Oft stecken unausgesprochen solche Fragen nach der Identität,
nach dem Besonderen in Liechtenstein hinter den Untersuchungen über
liechtensteinische Familiennamen oder die ortsspezifische Mundart.
Wie grössere Staaten muss auch der Kleinstaat Liechtenstein vielen
Herausforderungen gerecht werden, etwa im Bereich der Sozial- oder
der Kulturpolitik, und seiner Bevölkerung entsprechende Lösungen bie-
ten. Auch daraus ergeben sich historisch relevante Fragestellungen, bei-
spielsweise nach der Entwicklung der sozialen Versorgung oder des
Schulwesens.
Die Kleinheit des Landes bringt nicht nur Mängel mit sich, sie hat
auch Vorteile. So kennt man sich innerhalb der Forschungsgemeinschaft
gut. Es ist relativ einfach, den Überblick darüber zu behalten, wer woran
sitzt und welche historische Problemstellung er oder sie gerade bearbei-
tet. Der Zugang zu den Themen ist vergleichsweise bequem. Landesbi-
bliothek und Landesarchiv ermöglichen einen gut zugänglichen, umfas-
senden Überblick. Das geschulte Personal hilft gerne bei der histori-
schen Recherche. Schnell hat man sich eingelesen und die wichtigsten
Publikationen zur Kenntnis genommen. Weil die beiden Liechtensteiner
Tageszeitungen fortlaufend über jede Buchvernissage berichten, entgeht
einem auch selten eine Neuerscheinung. Das Historische Lexikon des
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