Christoph Maria Merki
Kenntnis genommen. Man will vergleichen, Strukturen kennenlernen,
Fehler und Erfolge verstehen, den Zeitgeist begreifen. Das will man
zwar auch im Kleinstaat. Die Relevanz seiner Geschichte für die euro-
päische Entwicklung ist indes marginal, sodass sie kaum die Aufmerk-
samkeit Aussenstehender erregt. Zwar hatte auch Liechtenstein Anteil
an den grossen Bewegungen und Problemlagen der jeweiligen Epochen,
aber meist ın einem bescheidenen Umfang und in wenig spektakulä-
rer Ausprägung. Liechtenstein führte selbst keine Kriege, unterjochte
keine Nachbarstaaten, hatte keine Kolonien, war über Jahrhunderte
nicht wirklich besetzt und beteiligte sich nicht an ethnischen Säuberun-
gen, Verfolgungen religiöser Minderheiten oder Rassenkonflikten. Es
gab in Liechtenstein nie einen Zusammenbruch der staatlichen Ord-
nung, keine Attentate auf Politiker, keine gewaltsamen Revolutionen
und keinen Tyrannenmord.
Andererseits kam es auch in Liechtenstein im 17. Jahrhundert zu
schwersten Hexenverfolgungen, wurden die im 17. und 18. Jahrhundert
vorübergehend angesiedelten Juden bedrängt, betrieb eine nationalsozia-
listische Gruppierung in den 1930er-Jahren massive antijüdische Propa-
ganda und verübte einen erfolglosen Anschlussputsch. Auch Liechten-
stein erlebte — oft parallel zur deutschen und europiischen Entwicklung
— Unruhen und revolutionäre Umtriebe, Gewalt gegen öffentliche Funk-
tionäre sowie Beinahe-Zusammenbrüche der Staatsfinanzen und Bedro-
hungen der staatlichen Existenz. Auch Liechtenstein hatte Auseinander-
setzungen mit anderen Staaten — so etwa mit Deutschland in den 1930er-
Jahren wegen seines Finanzdienstleistungssektors — und zog bisweilen
das Unverständnis des Auslands auf sich, etwa mit der zaghaften und
schrittweisen Entwicklung von Demokratie und Zivilgesellschaft oder
mit der arg verspiteten Einfihrung des Frauenstimmrechts.
So verlief in den letzten Jahrhunderten auf den ersten Blick alles im
Rahmen jener übergeordneten Entwicklungen, welche auch die Ge-
schichte anderer Staaten Westeuropas prägten, wenn auch meist in klei-
nerem Rahmen und häufig retardiert. Dennoch: Liechtenstein war und
ist anders. Seine Geschichte ist bemerkenswert und spannend. Denken
wir nur an seine für ein so kleines Land ungewöhnliche Souveränität
oder an die spezielle Staatsform aus demokratischen und monarchischen
Elementen.
So erzählenswert Liechtensteins Geschichte ist, so sehr werden
wissenschaftliche Erzählungen dieser Geschichte durch die Kleinstaat-
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