Geschichtsbild in liechtensteinischen Lehrmitteln
neuen Konstitutionellen Verfassung von 1862 die modernisierenden
Kräfte Oberhand gewannen. In dieser Phase vollzog sich denn auch der
politische und ökonomische Aufbruch. Das Fürstentum als konstitutio-
nelle Monarchie gewährte der Bevölkerung durch den Landtag die Mit-
wirkung bei spezifischen Staatsaufgaben. Wie den Darstellungen weiter
zu entnehmen ist, wurde mit der einsetzenden Industrialisierung ausser-
dem die Infrastruktur ausgebaut, das Land begann sich zu modernisie-
ren. Die Auswanderungswellen nach Amerika in dieser Zeit zeugen
jedoch auch von der sozialen Not. Bedeutsam sind ferner die Hinweise
auf die kulturelle Entwicklung im Vereinswesen in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts, das eine Landesidentität gestärkt haben dürfte. So
wurde 1876 eine erste «Landeskunde» herausgegeben und 1894 ein ers-
tes «Schulbüchlein» zur liechtensteinischen Geschichte publiziert.”
Vergleichen wir diese Darstellung mit jener in der 2014 erschiene-
nen Geschichte des Kantons Nidwalden, eines ähnlich grossen Schwei-
zer Kantons mit einem ausgeprägten Standesbewusstsein, so fällt auf,
dass sich die Narrative allgemein, was sozialgeschichtliche sowie kultur-
geschichtliche Themen betrifft, decken. Anders sind die Akzente im
Politischen: In der Nidwaldner Geschichte wird der Herrschaftswandel
von der dienstadeligen Herrschaft zum Landort betont, ausgelöst durch
die nach Macht strebenden Grossbauern mit der Herausbildung «ländli-
cher Potentaten». Erwähnung findet auch die Herausbildung eines
«neuen Selbstverständnisses», indem sich im Spätmittelalter und in der
Frühen Neuzeit die Nidwaldner mit den eidgenössisch geteilten
Schlachtjahrzeiten als gemeinsamem Erinnern ihre «Geschichte schaf-
fen». Da in der Schweiz die späteren Kantone als Staatswesen bis zum
modernen Bundesstaat von 1848 existierten, findet ein wesentlicher Teil
der politischen Geschichte auf diesen kantonalen Ebenen statt. Der
Begriff des Staatswesens wird denn auch für den Landort Nidwalden
verwendet. Nicht Fürsten, sondern Landammänner gaben den Ton an,
getragen von Familiendynastien. Prägend waren ferner die Konflikte
29 Siehe ebenda, S. 201. Es handelt sich um die «Landeskunde des Fürstenthums Liech-
tenstein zum Gebrauche der liechtensteinischen Elementarschulen» von David
Rheinberger, 1876, und um die «Geschichte des Gebietes des heutigen Fürstentums
Liechtenstein für Schule und Haus» von Johann Baptist Büchel, 1894.
30 Geschichte des Kantons Nidwalden, Bd. 1, S. 79.
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