Paul Vogt
den 1990er-Jahren weltweit über 50 Wahrheitskommissionen eingesetzt,
meist nach einer Militärdiktatur oder einem Bürgerkrieg zur Ermittlung
der «Wahrheit» über — oft vom Staat begangene — Menschenrechtsverlet-
zungen und Gewaltverbrechen. Die ersten Wahrheitskommissionen ent-
standen in Lateinamerika unter dem Druck von Birgerrechtsbewegun-
gen, um das Schicksal von verschwundenen und gefolterten Personen
aufzuklären (Bolivien 1982, Argentinien 1983 bis 1984). Die Comisiön
Nacional de Verdad y Reconciliacion im Chile (1990 bis 1991) war die
erste, die neben der Wahrheitstindung auch die Vers6hnung als Ziel im
Namen führte. Am meisten internationale Beachtung fand die 7ruth and
Reconciliation Commission in Studafrika (1995 bis 2002), die auch ge-
richtsdhnliche Kompetenzen im Bereich der opferorientierten Justiz
hatte. Als Wahrheitskommissionen gelten auch jene Untersuchungs-
kommissionen, die rassistische Verbrechen an den indigenen Bevölke-
rungen untersuchen und dokumentieren sollten (zum Beispiel an den
Aborigines durch Australien 1996/1997, an den Indianern durch Ka-
nada 1998 und 2009, an den Mayas durch Guatemala 1994 bis 1998).
Wenn auch der Zweck der Wahrheitskommissionen im Kern
immer derselbe ist — das Aufzeigen der Wahrheit und das gesellschaftli-
che Eingestehen des begangenen Unrechts —, so unterscheiden sich deren
Mandate, Rechtsgrundlagen und Vorgehensweisen je nach Kontext. In
der Literatur werden fünf charakteristische Gemeinsamkeiten genannt:
1. Wahrheitskommissionen fokussieren auf Verbrechen in der (meist
jüngeren) Vergangenheit und nicht auf aktuelle Ereignisse. 2. Sie unter-
suchen schwerpunktmässig typische Muster von Menschenrechtsverlet-
zungen (in der Regel also in grosser Zahl begangene Verbrechen) und
nicht so sehr Einzelfälle. 3. Sie richten das Hauptaugenmerk auf die
Opfer, die sie anhören. 4. Sie haben ein temporäres Mandat, das mit
einem autoritativen Schlussbericht endet, der eine gesellschaftlich gültige
Vergangenheitsversion darstellt. 5. Sie haben einen offiziellen Status und
sind durch den zu überprüfenden Staat autorisiert.?
3 Priscilla Hayner definiert den Begriff «Wahrheitskommission» wie folgt: «A truth
commission (1) is focused on the past, rather than ongoing, events; (2) investigates
a pattern of events that took place over a period of time; (3) engages directly and
broadly with the affected population, gathering information on their experiences;
(4) is a temporary body, with the aim of concluding with a final report; and (5) is
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