Antisemitismus und die Erklärung Nostra aetate
Fragen allerdings immer wieder virulent — jüngst hat der evangelische
Theologe Notger Slenczka (Humboldt-Universität Berlin) die Kanoni-
zität des Alten Testaments infrage gestellt. Diese Infragestellung wurde
von vielen Theologen mit Recht als antijudaistisch zurückgewiesen.??
Es lässt sich nicht übersehen, dass mit der Herauslösung der Kir-
che aus der jüdischen Synagoge auch ein spezifisch christlicher Antiju-
daismus einherging. Dieser christliche Antijudaismus lässt sich über die
Jahrhunderte beobachten, einmal latent, dann wieder offensichtlich und
mit blutigen Konsequenzen.
Der christliche Antijudaismus kulminierte im Vorwurf des Gottes-
mordes. Den Juden wurde kollektiv die Schuld am Kreuzestod Jesu
zugewiesen. Dieser Vorwurf wurde zwar nie kirchlich dogmatisiert und
entbehrt auch einer direkten biblischen Grundlage. Jesus starb selber als
Jude, und das undurchsichtige Verfahren gegen ihn führten in einem
unentwirrbaren Geflecht sowohl jüdische als auch römische Autoritä-
ten.” Gleichwohl blieb dieser Vorwurf unterschwellig im Raum stehen.
In welchem Ausmass dieser latente christliche Antijudaismus auch den
Rassen-Antisemitismus der Nationalsozialisten bestärkt hat, ist bis
heute eine offene Frage — sie lässt sich hier nicht mit wenigen Zeilen
beantworten. Zu diskutieren wären an diesem Punkt unter anderem die
Rolle der Päpste Pius XI. (Amtszeit 1922 bis 1939) und Pius XII. (Amts-
zeit 1939 bis 1958).?*
Die von den Nationalsozialisten betriebene systematische Juden-
verfolgung mit dem Ziel einer vollständigen Ausrottung des Judentums
fand bei den Christen sowohl Anhänger (ein Beispiel sind die «Deut-
schen Christen») als auch entschiedene Gegner und Märtyrer (Beken-
22 Tick, Gottes Augapfel, S. 193-205, leistet unter dem Titel «Christentum ohne Wur-
zel? Warum das Alte Testament im Kanon bleiben muss» eine konzise Auseinan-
dersetzung mit den Thesen Notger Slenczkas. Tiick geht auch auf die Debatte von
2015 ein, während der sich fünf Berliner Fakultätskollegen in einer Stellungnahme
von der Position Slenczkas distanzierten — unter ihnen der bedeutende Kirchenhis-
toriker Christoph Markschies.
23 Aufschlussreich dazu Kertelge (Hrsg.), Der Prozess gegen Jesus.
24 Die hier zu erörternden Aspekte sind so umfangreich, dass eine differenzierte Aus-
einandersetzung damit einen eigenen Beitrag erfordern würde. Auch die in deutscher
Sprache abgefasste, gegen die Ideologie des Nationalsozialismus gerichtete Enzy-
klika Mit brennender Sorge von 1937 müsste darin Berücksichtigung finden. Siehe
als erste Orientierung den Sammelband Bendel (Hrsg.), Die katholische Schuld?
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