Antisemitismus und die Erklärung Nostra aetate
«Während die institutionelle Organisation des Konzils sehr bald in Rom
konzentriert und von einer fast undurchdringlichen Geheimhaltung
umgeben war, kam es mehr und mehr auch zu einer parallel verlaufen-
den Vorbereitung. Diese hatte eine Unmenge von fast überall tätigen
namenlosen Mitspielern; unterstützt und beseelt wurde sie durch die
immer neuen öffentlichen Aktivitäten und Wortmeldungen Johannes’
XXIII., der nicht authorte, das Bild des Konzils als einer [...] Einberu-
fung aller Christen zu einem Werk der Einigung und des <Aggiorna-
mento» zu zeichnen. Es war vor allem diese [...] spontane Vorbereitung,
welche die Bedingungen dafür schuf, dass das Konzil zu einem Ereignis
wirklich erneuernder Kraft wurde.»®
Nostra aetate trägt alle diese genannten Charakteristika der Konzils-
dokumente an sich. Charakteristisch ist auch, dass die ursprüngliche Ini-
tiative für eine Judenerklärung direkt von Papst Johannes XXIII. ausging.
Nach seinem Tod 1963 lag es dann in den Händen von Papst Paul VI., das
Anliegen weiter zu tragen und zu einem guten Abschluss zu bringen.
Auch Nostra aetate spricht kein neues Anathema aus, sondern versucht
in einem positiven Grundton, das Gemeinsame und Verbindende zwi-
schen dem Christentum und den anderen Weltreligionen zu benennen.
Colloquium (Gespräch, Dialog): So heisst das grosse Stichwort, das hier
für die Haltung der Kirche gegenüber den nichtchristlichen Religionen
eingefordert wird.
Kritiker des Zweiten Vatikanischen Konzils nehmen diesen pasto-
ralen Charakter der Konzilsdokumente gerne zum Anlass, um den Tex-
ten jede dogmatische Verbindlichkeit abzusprechen. Indem das Zweite
Vatikanische Konzil keine dogmatischen Definitionen und entsprechen-
den Anathemata aussprach, wollte es ein erneutes Schisma, eine weitere
Spaltung der Kirche, vermeiden. In der Regel hatte jedes der vorange-
gangenen Konzilien ein solches Schisma nach sich gezogen, zuletzt das
Erste Vatikanische Konzil von 1870 in Form der Altkatholischen Kirche.
Bedauerlicherweise ist es dennoch, gerade durch Nostra aetate, zu
einem Schisma gekommen. Erzbischof Marcel Lefebvre, selbst Teilneh-
mer am Konzil, gründete die Priesterbruderschaft St. Pius X. Allgemein
bekannt ist, dass diese schismatische Bewegung die Liturgiereformen des
5 Alberigo, Die Fenster öffnen, S. 55-56; siehe dazu auch Alberigo (Hrsg.), Ge-
schichte der Konzilien, S. 413-470.
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