Antisemitismus als Thema
auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil —
Die Erklärung Nostra aetate
Günther Boss
Die Kirche «beklagt [...] alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Mani-
festationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von
irgend jemandem gegen die Juden gerichtet haben». Dieser Satz steht in
der bahnbrechenden Erklärung Nostra aetate des Zweiten Vatikanischen
Konzils (1962 bis 1965).! Am 28. Oktober 1965 wurde Nostra actate
durch Papst Paul VI. promulgiert — rund 20 Jahre nach den grauenvollen
Erfahrungen des Holocaust und der Shoah.
In der offiziellen deutschen Ubersetzung wird dieser Konzilstext
«Nostra aetate. Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nicht-
christlichen Religionen» genannt.” Was ursprünglich als Judenerklärung
intendiert war, entwickelte sich in einer wechselvollen Textgenese zu
einem Dokument, welches eine neue Verhältnisbestimmung der katholi-
schen Kirche zu den grossen Weltreligionen vornimmt. Im Zentrum der
1 Der zitierte Satz findet sich in Nostra aetate, Artikel 4. Die Konzilsdokumente wer-
den in diesem Beitrag nach der offiziellen, bischöflich approbierten deutschen
Übersetzung wiedergegeben, wie sie sich in den drei Zusatzbänden zum Lexikon
für Theologie und Kirche, zweite Auflage, finden (1966/1967/1968). Die Erklärung
Nostra aetate ist im zweiten Zusatzband abgedruckt und wird hier, wie bei Kon-
zilsdokumenten üblich, mit Titel und Artikelnummer zitiert. Rahner / Vorgrimler,
Kleines Konzilskompendium, drucken dieselbe offizielle deutsche Übersetzung ab.
Hünermann (Hrsg.), Dokumente, bringt 2004 in Band 1 des fünfbändigen Kom-
mentars zum Zweiten Vatikanischen Konzil eine neue Übersetzung aller 16 Kon-
zilsdokumente, welche sich enger an den lateinischen Urtext anlehnt. In einzelnen
Fällen wird darauf verwiesen.
2 Die Neuübersetzung Hünermann (Hrsg.), Kompendium, nennt das Dokument
«Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen.» Mit
dem Begriff der Haltung ist der lateinische Ausdruck habitudine sicherlich treffender
wiedergegeben; vor allem lässt er eine aktive Note anklingen. Gleichwohl wird hier
das Dokument mit dem offiziellen Titel benannt, da er in der kirchlichen Sprachge-
meinschaft vertraut ist.
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