Bürgertum im Bauernland. Eine sozial-
geschichtliche Skizze zum 19. und frühen
20. Jahrhundert: Ausbildungen und Berufe
Fabian Frommelt
Einleitung
Liechtenstein gilt im 19. und noch bis weit ins 20. Jahrhundert als Land
von Bauern, als Bauernland.! Bis zum Einsetzen der Industrialisierung in
den 1860er-Jahren war die Landwirtschaft der fast einzige Erwerbs-
zwelg, zusammen mit dem thr zudienenden und von ihr abhängigen
dörflichen Gewerbe. Und auch danach blieb der weitaus grösste Teil der
Bevölkerung noch während Jahrzehnten in die landwirtschaftliche Pro-
duktion eingebunden.
Diese primär bäuerliche Gesellschaft war indes in sozialer Hinsicht
nicht homogen, kannte die Differenzierung in vollberechtigte Dorfge-
nossen und minderberechtigte Hintersassen, in Haupterwerbsbauern
und Gewerbetreibende mit bäuerlichem Nebenerwerb, in Behauste und
Unbehauste, Reiche und Arme, in Hausväter, abhängige Familienmit-
glieder und Gesinde. Deutlich zurückgesetzt finden sich die ländlichen
Unterschichten, die heimatlosen Vagabunden, Fahrenden und Bettler.
Die in Liechtenstein ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstehende Arbei-
terschaft zunächst der Heim-, dann der Fabrikindustrie blieb zu einem
Grossteil über ihre Familien und durch landwirtschaftlichen Nebener-
werb in die bäuerliche Gesellschaft integriert und entging einer Proleta-
risierung.
Und am anderen Ende des gesellschaftlichen Spektrums? Einen ein-
gesessenen Adel gab es nicht, genau so wenig ein Stadtbiirgertum. Jedoch
1 Siehe Geiger, Geschichte, S. 32: Mitte des 19. Jahrhunderts «... bot die liechtenstei-
nische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung einen noch fast durch und durch biu-
erlichen Anblick». Siehe auch Ospelt, Wirtschaftsgeschichte, S. 83-84; Merki, Wirt-
schaftswunder, S. 11-12, 36, 51-54.
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