3. Armut
3.1 Armut: Definition und Wesen
Armut ist „ein gesellschaftlicher Tatbestand, der durch keine rein wirtschaftlichen ‚natürlichen‘
oder physiologischen Kriterien hinreichend definiert werden kann.“ ”’” Es ist demnach ein
relativer Begriff, der stets im Kontext politischer, ökonomischer, sozialer und mentaler
Gegebenheiten unterschiedliche Färbungen erhält.’® Für das 19. Jahrhundert lässt sich Armut
wie folgt definieren:
„Arm ist, wer über keinen oder ungenügenden Zugang zu Ressourcen wie
Nahrungsmittel, Wohnraum, Arbeit, Geld, Bildung oder Macht verfügt, wer schutzlos
Krankheit, Unfall, Siechtum oder Hunger preisgegeben ist. Von Bedeutung ist das soziale
Umfeld: Arm ist der Mittellose in einer mittellosen Verwandtschaft, der Hilfsbedürftige
ohne eine ihn schützende Gemeinschaft.“ ””
Das „Ausgeliefertsein an jeglichen Wechselschlag des Lebens, die völlige Abhängigkeit von
Ernteausgang und Wirtschaftslage, das Von-der-Hand-in-den-Mund-Leben“ ® stellt einen
wichtigen Teilaspekt der Armut dar. Doch ist es für die, die in Armut leben von hoher Relevanz
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„wie Armut gesellschaftlich wahrgenommen und bewertet“®" wird. Schließlich macht es einen
bedeutenden Unterschied, ob sie in Zeiten der Not auf die „christliche Nächstenliebe hoffen
dürfen oder wie Kriminelle verfolgt werden.“ ®?
Für die europäische Armutsgeschichte können drei drastische Wenden ausgemacht werden. Die
erste davon vollzog sich im Verhältnis Armut — Gesellschaft im 14. Jahrhundert. Vom einstigen
Ebenbild Christi wurden Arme „zu einem Wesen, das Furcht einflößt.“** Eine weitere Wende
trat in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein, als sich das „West- und Mitteleuropäische
Armenwesen neu organisierte“. An diesem Reformprozess, von dem Liechtenstein nicht
betroffen war, fällt auf, dass es zu einer Kommunalisierung und Laisierung der Armenpflege
kam. Ebenfalls wurden Armensteuern eingeführt und die Almosenvergabe genauen Kontrollen
unterworfen. Eine ‚geordnete‘ Aufzeichnung der Bedürftigen wurde in Liechtenstein 1802
angeordnet, leider ist eine solche für die Gemeinde Schaan nicht vorhanden.**
77 Hunecke, Geschichte der Armut, 490.
% Weiß, Armut. In: HLFL Bd. 1, 31.
7 Weiß, Armut. In: HLFL Bd. 1, 31. Nach Ernst Schubert.
80 Fischer, Armut in der Geschichte, 19.
81 Hunecke, Geschichte der Armut, 490.
8 Hunecke, Geschichte der Armut, 490.
8 Hunecke, Geschichte der Armut, 491.
8 Veits-Falk, Weis, Armselig sieht es aus, 231. Vorhanden sind sie fiir: Balzers-Miils, Triesen, Triesenberg,
Vaduz, Eschen, Gamprin, Schellenberg und Ruggell.
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