1. Entwicklung des Rechts und des ABGB
1.1. Die Entstehungsgeschichte des Rechts in Liechtenstein
Automatische Rezeption
1808 gab es Bemühungen zur Schaffung einer eigenen liechtensteinischen
Zivilrechtsordnung. Dies war deshalb notwendig, weil im Fürstentum noch der Landesbrauch
herrschte. Dieser bestand teils aus mündlich überliefertem und teils aus schriftlich
festgehaltenem lokalem Gewohnheitsrecht. ^ Diese Idee wurde aber kurz darauf wieder
aufgegeben, und man kam zum Entschluss, sich doch an Osterreich zu orientieren, unter
anderem aufgrund des traditionell engen Naheverháltnisses, aber auch um ein einheitliches
Recht zum gesamten Herrschaftsbereich, nämlich zu Böhmen, Mähren, Schlesien und
Österreich, zu haben.?
Die Übernahme des ABGB hatte neben dem Naheverhältnis zu Österreich den Vorteil, dass
es sich um eine naturrechtliche Kodifikation handelte, welche der gesamten Rechtstradition
Europas entsprach. Der Inhalt des ABGB stammte teilweise aus dem Römisch-Deutschen
Recht. Somit war kein Widerspruch zum bereits geltenden Recht vorhanden, es schloss viel-
mehr daran an. Ein weiterer Vorteil war die Anpassungsfähigkeit des ABGB, indem
wandelbares Recht in der Kodifikation vermieden wurde — hier wurde auf andere Gesetze
verwiesen. Das ABGB enthielt den Grundsatz der Vertragsfreiheit. Somit konnte man den
Vertrag nach den wirtschaftlichen und sozialen Erfordernissen entsprechend ausgestalten.?
1812 gab es eine automatische Rezeption des ósterreichischen Rechts, in welcher das ABGB
von 1811 mit Ausnahme des Erbrechts, der Allgemeinen Gerichtsordnung von 1781 und dem
Gesetzbuch über Verbrechen und schwere Polizeiübertretungen von 1803 übernommen
wurden.'? Somit war Liechtenstein das einzige Land, welches das ABGB einführte, das nicht
der Habsburgermonarchie zugehórte.'
Ab 1819 wurde das Verhältnis zwischen Liechtenstein und Österreich durch eine automatische
Übernahme des österreichischen Rechts noch weiter intensiviert. Für die Geltung der Gesetze
in Liechtenstein brauchte es keinen weiteren Durchführungsakt.
? Berger, Der Transfer einer Kodifikation (2003) 1.
? Berger/Brauneder, 2; Berger, Transfer, 2.
? Brauneder in Geistlinger/Harrer/Mosler/Rainer, 200 Jahre ABGB — Ausstrahlungen (2011) 71.
19 Berger/Brauneder, 2.
1 Ogris in Geistlinger/Harrer/Mosler/Rainer, 9.