Die Aktualität der benediktinischen Lebensform
Er führt in seiner ersten Vorlesung programmatisch aus: «Die Kultur,
wie ich sie mir wünschte, wäre eine leisere Kultur, eine Kultur der Stille,
in der die Dinge so eingerichtet wären, dass jedem geholfen würde, zu
seiner eigenen Stimme zu finden. Nichts würde mehr zählen als das; alles
andere müsste warten.»
Gemeinsam ist all diesen gegenwärtigen Lebenskunst-Philoso-
phien, dass sie Ethik wieder im ursprünglichen antiken Sinne als Suche
nach dem guten Leben verstehen — nicht als moralisierendes Urteil über
die Handlungen anderer.
Benediktinische Gastfreundschaft
Benediktiner haben einen Ort, das Kloster. Und sie pflegen die «stabili-
tas loci», das heisst sie binden sich dauerhaft an einen Klosterstandort
und an eine Gemeinschaft. Dies ist ein grosses Lebenswagnis, kann aber
auch ein grosser Gewinn sein. Die «stabilitas» der Mönche ist sozusagen
ein Gegenkonzept zu unserer schnelllebigen Zeit der ständigen Mobili-
tät und der ökonomischen Globalisierung. Ein Mönch, der in Disentis
eintritt, bindet sich ein Leben lang an diesen Ort und an diese Gemein-
schaft. Dies heisst aber auch, dass auftretende Spannungen oder Kon-
flikte — und die gibt es in jeder Ordensgemeinschaft wie auch in jeder
bürgerlichen Gemeinschaft — am Ort gelöst werden müssen. Selten
kommt es ansonsten zur räumlichen oder definitiven Trennung. Die
Ausführungen in der Regel zu «Verfehlungen und Strafen» oder zur
«Ausschliessung» sind wohl in diesen Kontext der Konfliktbewältigung
einzuordnen.
Ein solches Benediktinerkloster ist ein recht autarkes Gebilde,
meist sehr grosszügig angelegt und mit allem ausgestattet, was eine
Gemeinschaft zum Beten und Leben braucht. Das lateinische «clau-
strum» heisst so viel wie «verschlossener Ort»; von diesem Begriff
stammt die Benennung «Kloster». Man betritt im engeren Bezirk der
Klosteranlage sodann die «Klausur», wo nur die Mönche Zugang zu
ihren «Zellen» haben. All dies könnte einem geradezu Platzangst einja-
gen — meine Erfahrung ist aber eine ganz andere. Zum einen bewegt man
6 Peter Bieri, Wie wollen wir leben?, S. 34.
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