Der Historismus
Der letzte Gutenberger 5
Der Historismus in der Geschichtswissenschaft
Der Historismus in der Architektur
In der heutigen Geschichtswissenschaft ist es sehr wichtig, dass man bei der Erzäh-
lung eines historischen Ereignisses immer die einzelnen Quellen angibt, welche ei-
nem die entsprechenden Informationen geliefert haben.
Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert war das noch nicht üblich. Damals hat man
erst angefangen, die eigene Geschichte aufzuschreiben. Die Geschichtswissenschaft
steckte sozusagen noch in den Kinderschuhen.
Nach der Franzósischen Revolution gab es immer mehr Nationalstaaten. Eine Nation
definierte sich durch die gemeinsame Sprache, Religion und Kultur. Ein weiteres
identitátsstiftendes Merkmal war die gemeinsame Geschichte. So entstand allmählich
ein immer stárker werdendes Bedürfnis der Bevólkerung, ihre eigene Geschichte zu
erforschen und festzuhalten.
Die ersten nationalistischen Geschichtsschreiber trugen also alle móglichen Informa-
tionen zusammen und fügten sie in eine Erzáhlung ein. Dabei wurde nicht darauf
geachtet, ob es sich bei der Information um eine Legende oder ein historisch belegtes
Ereignis handelte. Die Erzáhlungen wurden sogar absichtlich ausgeschmückt und
beschónigt, um der eigenen Nation eine würdige Geschichte zu verleihen.
So wurden beispielsweise in der Schweizergeschichte Legenden, wie der Rütlisch-
wur oder der Apfelschuss von Wilhelm Tell, mit aufgenommen und in der Schule
unterrichtet. Keiner wollte genau wissen, ob diese Ereignisse sich wirklich so zuge-
tragen hatten, denn sie gehórten zum stolzen Nationalbewusstsein der Schweizerin-
nen und Schweizer.
Diese Zeit wird in der Geschichtswissenschaft Historismus genannt.
In der Architektur hat sich der Begriff Historismus ebenfalls durchgesetzt. Auch hier
hat man sich in der Zeitspanne vom 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert stark an der Ver-
gangenheit orientiert. Frühere Baustiele wurden nachgeahmt und es entstanden über-
all práchtige neoromanische, neogotische oder neobarocke Bauwerke.
Durch die technischen Errungenschaften der Industrialisierung entstanden innerhalb
weniger Jahre neue Kirchen, Kathedralen, Schlósser, Verwaltungsgebáude, Bahnhófe,
Poststellen und sogar ganze Stadtkulissen in einem historistischen Stil. Damit erschu-
fen die Nationen scheinbare monumentale Zeitzeugen einer beschónigten und aufge-
werteten Vergangenheit. Diese enorme Bautátigkeit, mit welcher eine márchenhafte
Scheinvergangenheit erschaffen wurde, kónnte man aus heutiger Sicht provokativ als
Disneyland des 19. Jahrhunderts bezeichnen.
Im Zeitgeist des Historismus wurde es unter der wohlhabenden und regierenden Bür-
gerschicht zur Mode, eine Ruine zu kaufen, um daraus eine romantische Ritterburg
erbauen zu lassen und anschliessend zu bewohnen. So entstanden, durch eine ideali-
sierte und romantische Vorstellung des Mittelalters, vielerorts márchenhafte Burgen
und Schlósser, welche meist mit den ursprünglichen, zu Ruinen zerfallenen Burgen
nicht mehr viel gemeinsam hatten. So sind die schónsten Schlósser Europas, wie etwa
das Schloss Neuschwanstein oder die Burg Hohenzollern, nicht im Mittelalter erbaut
worden sondern erst im 19. Jahrhundert.
Der Vaduzer Architekt und Bildhauer, Egon Rheinberger, konnte 1905 die stark zerfal-
lene Burg Gutenberg von Fürst Johann II. von Liechtenstein erwerben und baute die
Ruine innerhalb von fünf Jahren nach eigenen Vorstellungen zu einer mittelalterlichen
Burganlage aus. Einen Denkmalschutz gab es damals noch nicht und so hatte er freie
Hand bei der Gestaltung der Burg.