Staatsgerichtshof und Gesetzgeber
ihren gefestigten Platz. Sie ist im Normenkontrollverfahren als norm-
erhaltendes Prinzip von Bedeutung. Macht der Staatsgerichtshof von
dieser Auslegungsmethode Gebrauch, spricht er zugleich auch aus, «dass
eine bestimmte andere, auch mögliche Gesetzesauslegung der Verfas-
sung widerspricht».*? Er eliminiert mit anderen Worten die nicht ver-
fassungsgemässen Auslegungsalternativen. Ein solches Verfahren
kommt in seiner faktischen Wirkung einer teilweisen Kassation eines
Gesetzes gleich.‘
Die verfassungskonforme Auslegung stösst mitunter auch auf Kri-
tik. Sie wirft im Verhältnis zum Gesetzgeber und zu den anderen (Fach-)
Gerichten Fragen auf.“ So legt der Staatsgerichtshof das einfache Recht
für die anderen (Fach-)Gerichte verbindlich aus und «diktiert zugleich
dem Gesetzgeber seine Norminhalte».%* Ein solches Vorgehen rückt ihn
ın die Nähe einer «Superrevisionsinstanz»*?7 bzw. eines «Ersatzgesetzge-
bers»#8, Es wird in der deutschen Lehre auch eingewendet, dass die ver-
fassungskonforme Auslegung «gar keine echte (Gesetzes-)Auslegung,
sondern eine Normverwerfung in anderem Gewande» darstellt. Sie ziehe
«ihre Rechtfertigung aus der Verwechslung oder doch zumindest Vermi-
schung von Inhalts- und Geltungsfrage».?? Inhalt und Geltung einer
Rechtsnorm seien auseinanderzuhalten. Ob eine Rechtsnorm verfas-
sungsgemäss sei, lasse sich erst feststellen, wenn der betreffende Inhalt
423 Formulierung nach Joachim Burmeister, Verfassungsorientierung, S. 121 unter Be-
zugnahme auf Harald Bogs, Die Bindung des Fallrichters an eine verfassungskon-
forme Gesetzesauslegung des Normenkontrollrichters, in: DVBI 1965, S. 633.
424 Vgl. Herbert Wille, Normenkontrolle, S. 308 f. unter Bezugnahme auf Peter Obern-
dorfer, Die Verfassungsrechtsprechung im Rahmen der staatlichen Funktionen,
S. 201; zur Überschneidung von verfassungskonformer Gesetzesauslegung und
Teilnichtigerklärung von Rechtsnormen im deutschen Recht siehe Joachim Bur-
meister, Verfassungsorientierung, S. 120 ff.
425 Einen Überblick über die Auffassungen, die in der deutschen Judikatur und Literatur
vertreten werden, gibt Ulrike Lembke, Einheit aus Erkenntnis, S. 23 ff.; aus österrei-
chischen Sicht siehe Anna Gamper, Regeln der Verfassungsinterpretation, S. 216 ff.
426 Formulierung in Anlehnung an Ulrike Lembke, Einheit aus Erkenntnis, S. 116.
427 Siehe hinten S. 680 und S. 684.
428 Kritisch Gunnar Folke Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen, S. 6 f., der die
verfassungskonforme Auslegung eine «sehr wirkungsvolle Methode der Bevormun-
dung von Regierung und Parlament» nennt.
429 Matthias Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht, S. 140; ders., Rechtspre-
chung und Rechtsetzung, 5.42 f.; vgl. zu weiteren kritischen Einwendungen auch
Wolfgang Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren, S. 1418 Rz. 126.
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