Volltext: Ferdinand Nigg (1865-1949) in feinen Facetten

Diese offenbare Vertrautheit zwischen Maria und Engel - ein gesticktes Flüstern — eine 
Entrücktheit beider — Engel wie Maria — ein Raum, der sich unter der Berührung des 
Unsichtbaren verwandelt, neu entfaltet oder erst gebildet hat — ein durchgehend in 
Kreuzstich gehaltenes Bildwerk (im Mass von 110 x 160 cm). 
Das Motiv der Verkündigung an Maria gehört im hohen Mittelalter zur künstlerischen 
Grundausstattung der Stundenbücher. Zum mittelalterlichen ars moriendi schreibt 
Joachim Plotzek denn: «Für dieses Transitorische, dieses Hinübergehen aus der all- 
täglichen Realität in den Raum der Gebetswirklichkeit, wie auch für das Verweilen 
in dieser erwünschten anderen Gegenwärtigkeit, haben die Künstler vielerlei Darstel- 
lungsmöglichkeiten gefunden. Ein wesentliches Gestaltungselement dafür ist die Rah- 
menüberschneidung.», (in: ars vivendi ars moriendi. Hirmer Verlag, München 2001). 
Und daselbst heisst es auch: «Denn wenn die Vergangenheit in der Meditation zur 
Gegenwart wird, wenn das Weitzurückliegende, das weit Entfernte anwesend wird, 
ereignet sich Nähe als ein Erlebnis jenseits der kausalen Zeit- und Ortsbezüge. Begeg- 
nung mit dem eigentlich nicht Verfügbaren ...» 
Wir sind im Monat Mai, im Marien-Monat, und doch, die himmlische Braut bleibt im- 
mer auch ein adventliches Geschehen. Und diese Verkündigung wird überlieferungs- 
gemäss zugleich zur Darstellung für das Totenoffizium — bis hin zum risus paschalis. 
Gerade vor dem Hintergrund des Heilig Grabs wird das Motiv liturgisch zum Bild der 
in den Armen des Engels geretteten Seele, und genauso wird in der Kabbala die Sche- 
china zur Verkörperung jener Schwelle und Transzendenz — von hie nach drüben. Die 
Worte klingen also mit: «In deine Hände empfehle ich meinen Geist». Oder wie es 
zum Tode Mariae heisst: «Und in den letzten Tagen meines Lebens zeige mir dein 
Antlitz ...» 
Soviel vorerst zum ikonographischen sakralen Hintergrund 
Lassen Sie mich das Motiv dieses Bildteppichs noch anders sehen: Kein Zweifel, Nigg 
war ein belesener Mann, das belegt seine einstige Bibliothek sehr wohl. Von daher 
konnte ihm auch das monistische Gedankengut im Sinne eines unteilbaren Elements 
nicht fremd sein. Wir sind im Feinstofflichen angelangt. Es gibt eine Äusserung in 
Niggs Briefspiegel, nicht von ungefähr also, dass ich es hier nenne. Bekannt ist das 
Leibniz’sche «System der prästabilisierten Harmonie», Theorien, die damals in gewis- 
sen Kreisen (auch wissenschaftlichen) gerade in Mode kamen. Man mag jedoch eben- 
so an die Schrift «Das fliessende Licht» der Mystikerin Mechthild von Magdeburg 
erinnert sein, die zu Niggs Zeiten wiederentdeckt worden war. Der Zeitgeist prägte 
durchaus das Visionäre oder das Verständnis einer lebendigen Welt. Der monistische
	        

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