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Ob dieses großartige Projekt, dessen Durch
führung vom Staat im Beharrungszustand
jährlich über 400 Millionen Franken erfordern.
wird, die Gunst der gesetzgebenden Kammer
und des französischen Volkes finden wird, darf
nicht zum Vorneherein entschieden werden.
Dos Projekt an sich findet unsere Bewunde
rung.
3. Die Sozialversicherung in der Schweiz.
Es liegt nahe, die Verhältnisse im unmittel
baren Nachbarlande Liechtensteins, in der
Schweiz, ebenfalls näher zu.prüfen. Mit Be
dauern müssen wir zum voraus feststellen, daß
unsere demokratische Schweiz auf einzelnen
Gebieten der SoziaGerstcherung recht weit zu
rück ist. Nicht als ob es an Versuchen zur Ein
führung der Sozialversicherung in der Schweiz
gefehlt hätte. Die ersten Anstrengungen der
schweizerischen Behörde zur Durchführung der
Kranken- und Unfallversicherung reichen bis in
die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts zu
rück. Wer erst im Jahre 1912 gab das Schwei
zervolk seine Zustimmung zu einem Gesetze
über die Kranken- und Unfallversicherung,
nachdem es ein erstes Projekt im Jahre 1900
mit großem Mehr verworfen hatte. Dieses Ge
setz von 1912 brachte das Obligatorium der Un
fallversicherung fiir alle Arbeiter der Industrie
und des Verkehrs, dagegen nicht das ebenso
dringende Obligatorium der Krankenversiche
rung. Auf letzterem Gebiete beschränkt sich die
Tätigkeit des Bundes lediglich auf die Förde
rung der freiwilligen Krankenversicherung durch
Subvention der sogenannten anerkannten
Kassen, während die obligatorische Unfallver
sicherung durch Schaffung einer eidgenössischen
Unfallversicherungsanstalt in Luzern durchge
führt worden ist. Heute erweist sich das Gesetz
von 1912 trotz des Ergänzungsgesetzes von
1915 schon als revisionsbedürftig. Ich glaube
behaupten zu dürfen, daß die künftige Entwick
lung sich in der Richtung der obligatorischen
Krankenversicherung machen wird.
Dagegen besitzt die Schweiz noch keine staat
liche Alters-, Invaliden- und Hinterbliebene n-
versicherung. Tie auf den Weltkrieg folgende
wirtschaftliche Umwälzung brachte jedoch auch
hier den Stein ins Rollen, und unsere obersten
Landesbehörden haben seit drei Jahren dieses
schwierige Problem der allgemeinen Sozialver
sicherung bearbeitet: aber die Vorarbeiten sind
nicht über die Vorfragen hinausgekommen. Tie
wesentlichste Schwierigkeit liegt in der Auf
bringung der Mittel-, solche zu beschaffen, fällt
dem Bunde im gegenwärtigen Momente ange
sichts der wirtschaftlichen Krise und der durch
die Mobilisation erwachsenen Staatsschuld sehr
schwer, sa doppelt schwer, weil es ihm an di
rekten Bundeseinnahmen, namentlich an einer-
direkten Bundessteuer fehlt.
Das Fehlen einer staatlichen Alters- und
Invalidenversicherung har der Entstehung zahl
reicher kantonaler, kommunaler und privater
Verficherungseinrichtungen Vorschub geleistet.
Neben sechs großen und größeren privaten
Lebensversicherungs-Gesellschaften besitzt die
Schweiz einige hundert kleinere und größere
private Hülfs- und Verflcherungskassen, die ei
nem großen Teile unseres Volkes die Sorge für
die alten und kranken Tage abnehmen. Viele
Gemeinden haben eigene Pensions- und Für
sorge-Einrichtungen für ihre Beamten und An
gestellten. Einzelne Kantone besitzen eine ei
gentliche allgemeine Volksversicherung; aber
eine ausgebaute obligatorische Alters- und In
validenversicherung existiert nur im kleinen,
industriereichen Kanton Glarus. Der Bund
besitzt für seine Beamten, Angestellten und Ar
beiter eine vortrefflich ausgebaute obligatori
sche Versicherungskasse, ebenso fiir sämtliche Be-
ainten, Angestellten und Arbeiter der Bundes
bahnen.
Ueberblicken wir nach dieser raschen Orien
tierung die Verhältnisse in der Schweiz, so kön
nen wir folgende Feststellung machen:
Tie Unfallversicherung ist durch ein Obli
gatorium für breiteste Kreise der erwerbstäti
gen Bevölkerung geregelt. Die Krankenversiche
rung ist privaten Krankenkassen überlassen,
wird aber vom Bunde auf dem Subventions
wege gefördert; in den kommenden Fahren soll
dieses Subventionssystem durch das Obligato
rium abgelöst werden. Die Alters-, Jnvaliden-
und Hinterbliebenenversicherung ist gesetzlich
nicht geregelt, sondern der privaten Tätigkeit
überlassen; das Schweizervolk jetzt aber alles
daran, möglichst bald eine obligatorische Al
ters-, Invaliden- und Hinterlassenen-Bersiche-
rung einzuführen.