Europäische Integration als föderaler Prozess
Besonderheit des supranationalen Föderalismus besser verstehen lassen.
In dieser heuristischen Funktion ist die Bundeslehre durch föderale
Rechtsvergleiche zu ergänzen, die am Beispiel bestehender oder histori-
scher Föderationen Anschauungsmaterial und Erklärungsmuster für
föderale Besonderheiten bereit stellen, die aus einer von etatistischem
Bundesstaat-Staatenbund-Denken geprägten Perspektive häufig nur als
Defizite erscheinen mögen. Das schliesst Kritik an den jeweiligen Be-
funden nicht aus. So ist die Verweigerungshaltung der Mitgliedstaaten
gegenüber der Vergemeinschaftung von Aufgaben, die sich nicht mehr
primär intergouvernemental bewältigen lassen, notorisch. Als Beispiel
sei nur die Aussen- und Sicherheitspolitik erwähnt. Allein, die Defizite
sind an den spezifischen Zielen der Union zu messen. Der Reformbedarf
liegt nicht «im Abweichen von tradierten Blaupausen staatlicher Orga-
nisation, sondern in konkreten Unzulánglichkeiten des gemeinschafts-
spezifischen Institutionensystems» 7!
III. Folgerungen für kleinstaatliche Partizipationsoptionen
1. Die doppelte Herausforderung: Staat als Raum individueller
und kollektiver Freiheit
Eine Konkretisierung und Veranschaulichung der «bündischen» Beson-
derheiten der Europäischen Union als einer post-nationalen Föderation
jenseits von Bundesstaat und Staatenbund soll hier nicht erfolgen. Dazu
gibt es inzwischen eine Fülle hervorragender Veróffentlichungen. Und
was die spezifisch durch vertikalen Rechtsvergleich mit historischen
Vorbildern herausgearbeiteten Besonderheiten der Europäischen Union
betrifft, so sollte ja gerade auch diese Tagung einen kleinen Beitrag dazu
leisten, den europäischen Föderalismus im Lichte der Verfassungsge-
schichte «besser zu verstehen». Anstelle eigener Ausführungen sei daher
auf die anderen Beiträge in diesem Band verwiesen. Ausgehend davon,
dass die europäische Integration die Staaten Europas in zweifacher Weise
erfasst, als auf die kollektive Freiheitsidee bezogene politische Entschei-
71 Oeter (Anm. 29), 5. 77.
72 Siehe allein die Literaturnachweise in Anm. 28.
45