Thomas Bruba/ Emilia Breuss
IL. Die Europäische Union als Föderation verstehen
1. Bedeutung der Fragestellung
Welchen institutionellen Spielraum für die gebotene Abwägung zwi-
schen den Zielen der Erweiterung und der Vertiefung der Europäischen
Union gewähren nun aber die Gründungsverträge? Mit dem Hinweis
darauf, dass die EU-Mitgliedstaaten «Herren der Vertráge»!? und damit
frei seien, diese nach Belieben zu àndern und z. B. den Mitgliedschafts-
erfordernissen besonders kleiner Staaten anzupassen, kann es ersichtlich
nicht sein Bewenden haben. Der Europäischen Union ist zwar kein be-
stimmter Typus supranationaler Organisation und post-nationaler De-
mokratie aufgegeben. Im Zuge der Errichtung und Fortentwicklung der
Gemeinschaft und der Gründungsverträge formen die Mitgliedstaaten
jedoch permanent eine konstitutionelle Identität, deren materielle Legi-
timation zu einem guten Stück in der Kontinuität der Verfassungs-
entwicklung und ihrer inneren Stimmigkeit und Konsistenz besteht.
Etwaige Änderungen und Anpassungen dieses verfassungsrechtlichen
Gefüges mit Blick auf die Mitgliedschaft besonders kleiner Staaten sind
daher sorgfältig darauf hin zu überprüfen, ob sie sich in die verfassungs-
rechtliche Grundkonzeption der Gemeinschaft einfügen.
Kann aber die hier diskutierte föderale Deutung der Gemeinschaft
dabei überhaupt behilflich sein? Lenkt sie nicht von der eigentlich juris-
tischen Aufgabe ab, Normen mit Blick auf ihren Wortlaut, ihren Kon-
text und die mit ihnen verfolgten Zwecke auszulegen, indem ihnen im
Lichte einer mehr oder weniger diskutablen Annahme ein im Text nicht
nachweisbarer meta-juristischer Erklärungsgehalt beigemessen wird?
Dazu ist zunächst zu sagen, dass eine hinreichend begründete «föderale
Leseart» des Unionsrechts durchaus eine legitime Form der Auslegung
sein kann. Sie kann als Anwendungsfall der Methode des rechtswissen-
schaftlichen Konstruktivismus? verstanden werden, worunter im vorlie-
genden Zusammenhang die Heranziehung von Begriffen und Katego-
rien aus dem Verfassungs- und Vólkerrecht auf die Europäische Union
19 Soinsbesondere die in der Maasgtricht-Entscheidung (Anm. 31) verwendete Formel
des deutschen Bundesverfassungsgerichts, siche S. 190.
20 . Dazu jüngst Kye I. Lee, Die Struktur der juristischen Entscheidung aus konstrukti-
vistischer Sicht, 2010.
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