Föderale Bürgerschaft
ran, sich den skizzierten föderalen Bürgerschaftsraum insgesamt vor Au-
gen zu führen. Durch diese Kontextualisierung werden die entsprechen-
den Sachfragen natürlich nicht gelöst. Aber es wird doch deutlich, dass
sie jedenfalls nicht aus dem Horizont eines letztlich einheitsstaatlichen
Verständnisses von Bürgerschaft heraus angemessen formuliert werden
können, sondern als spezifisch föderative Probleme erfasst werden müs-
sen. Das bedeutet etwa, dass für die Frage der Einbeziehung zuwan-
dernder Unionsbürger in die Sozialleistungen des Aufenthaltsstaats dif-
ferenzierte Lösungen mit abgestuften Integrationskonzepten überlegt
werden müssen, die den unterschiedlichen Strukturen wohlfahrtsstaatli-
cher Solidarität Rechnung tragen.” Die Herausarbeitung der föderativen
Strukturfragen aufgrund verfassungsgeschichtlicher und. —vergleichen-
der Erkenntnisse bietet hierbei nicht automatisch zugleich Leitgesichts-
punkte im Sinne einer normativen politischen Theorie an. Aber indem
sie die in der Diskussion hàufig wie selbstverstándlich mitschwingenden
Vorstellungen einer Bürgerschaft des nationalen Wohlfahrtsstaats in
Frage stellt, macht sie es überhaupt erst móglich, eine derartige norma-
tive politische Theorie zu entwickeln, die fóderativen Grundproblemen
Rechnung trágt.?!
III. Die europäische Bürgerschaft als föderale Bürgerschaft:
Lehren aus der Verfassungsgeschichte?
Im Hinblick auf das Verständnis der europäischen Bürgerschaft, die seit
dem Vertrag von Maastricht aus dem Jahr 1993 rechtlich als Unionsbür-
gerschaft formalisiert ist, bedeutet die Interpretation im Kontext der ver-
gleichenden Föderalismusgeschichte zunächst einmal eine grundlegende
Entdramatisierung. Vieles, was im europäischen Kontext als völlig neu
und einzigartig erlebt und analysiert wird, erweist sich als föderales Er-
30 Schönberger, Unionsbürger (Fn. 10), S. 349 ff. Für das Recht der heutigen USA ist
das eingehend durchdacht bei Alexander Graser, Dezentrale Wohlfahrtsstaatlichkeit
im föderalen Binnenmarkt? Eine verfassungs- und sozialrechtliche Untersuchung
am Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika, 2001.
31 Überlegungen dazu liegen allerdings noch kaum vor. Eine anregende Ausnahme bei
Lea Brilmayer, Shaping and Sharing in Democratic Theory: Towards a Political Phi-
losophy of Interstate Equality, Florida State University Law Review 15 (1987),
S. 389 ff.
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