Christoph Schönberger
Bundesstaat letztlich nur als verkappten Einheitsstaat mit einheitlichem
Staatsvolk und parlamentarischer Mehrheitsherrschaft vorstellen kann
(und gerade deshalb der «Ewigkeitsklausel» des Grundgesetzes ein Ver-
bot des Übergangs zu einem europäischen Bundesstaat entnehmen zu
können glaubt).
Föderalismus ist indes stets mehr gewesen als der Bundesstaat und
erst recht als jenes unitarisch verzerrte Bundesstaatsverständnis, das sich
in Deutschland seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert durchgesetzt hat.
Die Europäische Union mit der Entwicklungsgeschichte traditioneller
Bundesstaaten wie der Schweiz, der USA oder Deutschlands zu verglei-
chen, heisst keineswegs die jeweiligen Entwicklungspfade gleichsetzen
oder offenkundige Unterschiede nicht wahrnehmen. Comparaison n’est
pas raison. Aber erst der Vergleich bewahrt vor der ungleich problema-
tischeren Tendenz, die Europäische Union als völlig eigengeartetes Son-
dergebilde zu verstehen, als System sui generis. Eine derartige isolie-
rende Betrachtungsweise — die sich paradoxerweise in einer unkritisch-
europhilen Europarechtswissenschaft ebenso háufig findet wie in einer
introvertiert-etatistischen Staatsrechtswissenschaft — steht in der Gefahr,
sich in sich selbst einzukapseln und das in der diachronen Rechtsver-
gleichung liegende Erkenntnispotential zum eigenen Schaden unausge-
schöpft zu lassen. Sicherlich ist die Europäische Union ein Unikat. Aber
auch die Schweiz oder die Vereinigten Staaten sind Unikate. Das sollte
dort so wenig wie hier hindern, diese Ordnungen durch vergleichende
Einordnung besser zu verstehen. Für freiwillige enge Staatenzusammen-
schlüsse halten Föderalismustheorie und föderale Verfassungsgeschichte
einen reichhaltigen Begriffs- und Erfahrungsschatz bereit.
IL. Grundstrukturen fóderaler Bürgerschaft in freiwilligen
Staatenzusammenschlüssen
Die Bürgerschaft grossflächiger Gebilde ist historisch häufig ein plurales
Phänomen gewesen. Das klassische Beispiel dafür ist das Bürgerrecht im
15 BVerfGE 123, 267 (347 f., 364, 365); vgl. zur Kritik näher Christoph Schönberger,
Die Europäische Union zwischen «Demokratiedefizit» und Bundesstaatsverbot.
Anmerkungen zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Der Staat 48
(2009), S. 535 (555 f£.).
198