Europäischer Föderalismus im Licht der Verfassungsgeschichte
simile zu was? Auf einer hohen Abstraktionsebene lässt sich diese Frage
unschwer beantworten: Sicherlich weist das Gefüge der EU so starke
Ähnlichkeiten zu historischen Formen föderaler Verbundstaatlichkeit
auf, dass man auch die EU als ein föderales Gebilde bezeichnen kann.
Doch damit allein ist wenig gewonnen. Welche Art föderaler Verbunds-
taatlichkeit stellt die EU denn nun wirklich dar? Sicher ist nur, dass sie
weder dem theoretischen Idealtypus des Bundesstaates noch dem des
Staatenbundes entspricht.”® Das eine (Staatenbund) ist sie schon längst
nicht mehr, das andere (Bundesstaat) bei weitem noch nicht — und ob sie
es jemals werden soll, ist mehr als unsicher. Überhaupt fällt auf, dass Be-
wertungen am Massstab dieser — ja schon in ihrer historischen Entste-
hung stark mit politischen Programmatiken aufgeladenen — Kategorien
der klassischen Staatslehre recht unfruchtbar sind.^! Das Beschwóren der
Nähe und Ferne zu diesen staatstheoretischen Idealtypen kaschiert meist
eine untergründig wirkungsmichtige politische Programmatik — sowohl
in der Kategorie des Staatenverbundes, mit der das Bundesverfassungs-
gericht die aus seiner Sicht primär staatenbündischen Züge der Unions-
konstruktion herausstreichen wollte,”? wie in der Utopie des unvollen-
deten Bundesstaates, mit der die europäischen Föderalisten das telos ei-
ner Bundesstaatswerdung Europas immer wieder neu beschwören.”
Beides sind politische Positionsbezüge, die die analytische Strukturde-
70 | Vgl auch M. Burgess (o. Anm. 26), S. 41 ff.; C. Schönberger (0. Anm. 25), 5. 98 ff.
71 Siehe auch die kritischen Anmerkungen in C. Schónberger (o. Anm. 25), S. 81 ff.
72 Siehe als kritische Anmerkungen zum Lissabon-Urteil des deutschen Bundesverfas-
sungsgerichts P. Häberle, Das retrospektive Lissabon-Urteil als versteinernde Maas-
tricht II-Entscheidung, JöR 58 (2010), S. 317 ff.; C. Calliess, Nach dem Lissabon-
Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Zs. f. Gesetzgebung 25 (2010) S. 1 ff;
C. Schônberger, Die Europäische Union zwischen «Demokratiedefizit> und Bun-
desstaatsverbot, Der Staat 48 (2009), S. 535 ff.; J. Sack, Der «Staatenverbund» - das
Europa der Vaterländer des Bundesverfassungsgerichts, ZeuS 12 (2009), S. 623 ff;
P.-C. Müller-Graff, Das Karlsruher Lissabon-Urteil: Bedingungen, Grenzen, Ora-
kel und integrative Optionen, Integration 32 (2009), S. 331 f£; M. Ruffert, Nach
dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Zur Anatomie einer Debatte,
Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 7 (2009), S. 381 ff.; J. Terhechte,
Souveränität, Dynamik und Integration — making up the rules as weg o along?,
EuZW 20 (2009), S. 724 ff; D. Thym, Europäische Integration im Schatten souve-
ráner Staatlichkeit, Der Staat 48 (2009), S. 559 ff.
73 Siehe etwa D. Thürer, Fóderalistische Chance für Gesamteuropa, in: P. Barblan/
^. Koller (Hrsg.), Die schweizerische Verfassungsgeschichte: Eine Quelle von An-
regungen für die Zukunft Europas?, Lenzburg 2002, S. 74 ff.
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