Europäischer Föderalismus im Licht der Verfassungsgeschichte
Verfassungsgeschichte ermangelt. Wenn überhaupt, dann liesse sich al-
lenfalls eine zaghafte Parallele zum Direktorium der französischen
(Nach-)Revolutionsverfassung kurz vor 1800 stellen, das funktionale
Kopien erlebte etwa in der Verfassung der (napoleonischen) Helveti-
schen Republik.
Wenn sich insoweit Vorbilder in nationalen Institutionensystemen
finden lassen, dann eher im Bereich der Sonderverwaltungen. In vielen
Staaten gibt es eine Tradition der Auslagerung spezifischer Regierungs-
und Verwaltungsfunktionen mit stark technokratischer Prägung in (mit
technokratischer Expertise besetzte) Kollegialbehörden.® Das Arran-
gement der Kollegialbehörden hat eine lange Tradition in der frühneu-
zeitlichen Ämterverfassung, man denke an die Räte, Kammern und
Konsistorien der frühneuzeitlichen Fürstenstaaten in Deutschland.” In
Spezialbereichen hat es auch in modernen Staaten eine Renaissance er-
fahren, man denke für Deutschland etwa an die Bundesbank oder das
Bundeskartellamt, in der Schweiz an die Unzahl kollegial entscheidender
Kommissionen mit Verwaltungs- und Regulierungsfunktion — und ähn-
liche Phänomene finden sich auch in den meisten anderen Staaten
Europas.
Diese Auslagerung exekutivischer Funktionen der Regulierung
und des Verwaltungsvollzugs in eine (politisch bestellte) Kollegialbe-
hörde erhält allerdings vor dem Hintergrund des bündischen Charakters
des Gesamtsystems eine ganz eigene Note — geht es hier bei der starken
Abstützung auf das Kollegialprinzip doch nicht nur um die Sicherung
technokratischer Expertise, die Gewährleistung einer Pluralität von Per-
spektiven im Entscheidungsprozess und letztlich auch um eine gewisse
Form von Gewaltenhemmung im Sinne der checks and balances, son-
dern — angesichts der kulturellen Heterogenität des Verbundes — auch
um ein starkes Element der Sicherung kultureller Diversitàt.5* Monokra-
55 Zum Direktorium der Helvetischen Republik vgl. H. Bóning, Der Traum von Frei-
heit und Gleichheit: Helvetische Revolution und Republik (1798-1803), Zürich
2001.
56 . Vgl nur M. Roller, Weisungsfreie Ausschüsse in der Verwaltung und Ministerver-
antwortlichkeit, Tübingen 1966.
57 . Wgl hierzu etwa D. Willoweit, Allgemeine Merkmale der Verwaltungsorganisation
in den Territorien, in: K.G.A. Jeserich u.a. (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsge-
schichte, Bd. 1, Stuttgart 1983, S. 289, 307 ff., 330 ff.
58 Vgl. in diesem Sinne auch schon S. Oeter (o. Anm. 19), S. 416 ff.
163