Volltext: Europäischer Föderalismus im Licht der Verfassungsgeschichte

Europäischer Föderalismus im Licht der Verfassungsgeschichte 
Zugleich haben sich die Kräfteverhältnisse im Beziehungsfeld Mi- 
nisterrat-Europäisches Parlament im Laufe der Jahrzehnte deutlich ver- 
schoben. War der Ministerrat in der ursprünglichen Konstruktion das 
zentrale Rechtsetzungsorgan, was in der Logik der rein exekutivischen 
Rechtsetzung eigentlich auch durchaus folgerichtig war, so hat sich dies 
in den gut fünfzig Jahren der europäischen Integration ganz massiv ver- 
schoben, hin zu einem offen politischen Prozess der demokratischen 
Normsetzung im Geflecht Kommission -Rat- Parlament. Mit dem 
Übergang zum Verfahren der Mitentscheidung ist das europäische 
Rechtsetzungsverfahren eigentlich kein klassisch exekutivisches Recht- 
setzungsverfahren mehr, sondern ein auch zunehmend von öffentlicher 
Debatte begleitetes Verfahren reprásentativer Demokratie, in der die 
zwei ganz unterschiedlich demokratisch legitimierten Hauptorgane Rat 
und Parlament die ganz unterschiedlichen stakeholder abbilden und 
über Kompromissbildung ein auch nach aussen politisch verantwortetes 
Entscheidungsergebnis herstellen. Mit guten Gründen hatte man sich 
im Entwurf des Verfassungsvertrages dafür entschieden, diese qualitative 
Veránderung auch terminologisch abzubilden, über die Bezeichnung der 
Normativakte als «Europäisches Gesetz» und «Europäisches Rahmen- 
gesetz» — denn um nichts anderes handelt es sich letztlich bei Verord- 
nungen und Richtlinien**. Dass diese terminologische Nachführung am 
Schluss den Bemühungen um semantische Abrüstung des neuen Vertra- 
ges zum Opfer gefallen ist, in der man alle Spurenelemente der Verfas- 
sungsrhetorik zu tilgen suchte, ist im Sinne der terminologischen Klar- 
heit bedauerlich, àndert aber nichts daran, dass es sich bei den Norm- 
setzungen von Rat und Parlament materiell um Europäische Gesetze 
handelt.“ 
Mit der qualitativen Wandlung der Rollenteilung von Rat und Par- 
lament aber hat sich das europäische Institutionensystem stark an die 
tradierten Muster historischer Fôderalverfassungen angenähert. Als Er- 
gebnis der nachholenden Parlamentarisierung im europäischen Institu- 
tionensystem haben wir heute ein institutionelles Arrangement, das auf 
eine frappierende Weise strukturelle Analogien zum institutionellen Ar- 
47 . Vgl insoweit auch S. Oeter (o. Anm. 19), S. 410 ff. 
48 . Vgl hierzu auch eingehend J. Bast, Handlungsformen und Rechtsschutz, in: A. v. Bog- 
dandy / J. Bast (Hrsg.), Europáisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 489, 495 ff. 
49 Ebda., S. 544 ff. 
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