Oliver Diggelmann
zen. Diese Anordnung stand teilweise im Widerspruch zu den Colonial
Charters. Insbesondere die sogenannten Sea-to-sea-Charters, zu denen
etwa jene Virginias gehörte, gewährten den Kolonien das Recht auf
Westausdehnung.?
Englands Härte löste eine nicht vorhergesehene und zusehends
auch nicht mehr kontrollierbare Dynamik aus. Bald waren nicht nur Be-
steuerung und Westausdehnung Streitgegenstand, sondern das Recht
Englands zur Gesetzgebung für die Kolonien generell. In die Auseinan-
dersetzung involviert waren nicht nur die dreizehn ab 1776 unabhän-
gigen Kolonien.? Auch weitere britische Besitzungen auf dem nord-
amerikanischen Kontinent wurden hineingezogen. Geeint wurden die
Kolonisten durch die Überzeugung, England habe eine rote Linie über-
schritten.
Im Jahr 1775 kam es zu ersten militärischen Konfrontationen. Für
die Kolonien zeigte sich schnell, dass sie — wenn sie erfolgreich aus der
Auseinandersetzung hervorgehen wollten — dringend auf Verbündete
angewiesen waren. Sie suchten die Allianz mit Frankreich, das den eng-
lischen Einfluss in Nordamerika kompensatorisch für die eigenen Ver-
luste zu schmálern trachtete. Der Kolonialstatus setzte den Handlungs-
spielráumen der Kolonien allerdings gewisse Grenzen. Nur Staaten
konnten Bündnisvertráge abschliessen. Es bedurfte der formellen Lossa-
gung von England, um vólkerrechtliche Vertragsfáhigkeit zu erlangen.
Das Bedürfnis, Frankreich als Verbündeten zu gewinnen, war mit ein
Grund für die Erklärung der Unabhängigkeit. Ausserdem bestand Ei-
nigkeit, dass die gemeinsamen Unternehmungen institutionell besser ko-
ordiniert werden mussten. Man wollte eine Führungsstruktur schaffen,
27 England war 1763 nach dem Frieden mit Frankreich und Spanien Verpflichtungen
eingegangen, die den Colonial Charters teilweise widersprachen. Es verpflichtete
sich insbesondere dafür zu sorgen, dass die Ostküstenkolonien nicht über den Mis-
sissippi vorstossen würden. Kolonien mit Sea-to-sea Charters rebellierten gegen
dieses Versprechen. Zur Westausdehnung vgl. Ray Allen Billington / Martin Ridge,
Westward Expansion, 6. A., Albuquerque 2001.
28 Abraham Lincoln sowie weitere Politiker vertraten verschiedentlich die Auffassung,
mit der Unabhängigkeitserklärung sei ein einziger Staat mit den 13 ehemaligen Ko-
lonien als Staatsgliedern entstanden. Die falsche Darstellung stand offensichtlich im
Dienst der Etablierung einer nationalen Erzählung, die im Vorfeld und während des
Bürgerkrieges die «natürliche» Zusammengehörigkeit der ehemaligen Kolonien be-
tonte. Vgl. Akhil Reed Amar, America’s Constitution. A Biography, New York
2005, S. 39.
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