Volltext: 25 Jahre Liechtenstein-Institut

2.«Sendung des Kleinstaats» — Rückbesinnung im Angesicht der Bedrohung Der grosse Nationalstaat stieg zum Leitbild des 19. Jahrhunderts auf. Im Ersten Weltkrieg ging es unter. Denn als die grossen multinationalen Reiche an ihren Kriegsniederlagen zerbrachen, schien die Stunde der Kleinen zu schlagen. Der Untergang des Osmanischen Reichs und der Habsburgermonarchie sicherte die Existenz der Balkanstaaten, die zu- vor schon gegen das osmanische Zentrum mit militärischer und zum Teil auch revolutionärer Gewalt erzwungen worden waren, und ermöglichte die Gründung der Republiken Polen und Tschechoslowakei. Die Kriegs- niederlage des zarischen Russlands schuf zudem die Voraussetzung, dass im Baltikum drei republikanische Nationalstaaten entstanden und Finn- land seine Unabhängigkeit erhielt. Die meisten dieser Staaten gehörten zu den kleineren, wie auch Ungarn und Österreich, welche die deutsch- österreichische Kriegsniederlage mit einer drastischen Verkleinerung ih- rer Staatsgebiete bezahlen mussten. Europa veränderte seine staatliche Gestalt einschneidend, als die al- ten Vielvölkerreiche von den Siegern in eine Vielzahl kleiner und mittle- rer Staaten zerlegt wurden. Der Triumph der Kleinen stiftete jedoch keine Friedensordnung, die an die Stelle der europäischen Mächteord- nung, die im Ersten Weltkrieg untergegangen war, hätte treten können. Kaum einer der europäischen Staaten, weder Sieger noch Besiegte, zeigte sich mit den neuen Grenzen, die in den Friedensverträgen erzwungen worden waren, zufrieden. Das war ein gewichtiger Grund, warum sich das neue Europa zu einem kriegsbereiten Kontinent des Revisionismus entwickelte. Es zielte erneut — hier folgte es den Denkmustern des 19. Jahrhunderts — auf Grösse: grosse Staaten, grosse Wirtschaftsräume. Die Diktaturen in Deutschland und Italien wurden die Exekutoren die- ses Willens zur Grösse. Ihm hatte der Völkerbund, der 
auchals eine Or- ganisation zum Schutz der kleinen Staaten und der ethnisch-nationalen Minderheiten gedacht gewesen ist, nichts entgegenzusetzen. Angesichts dieser existentiellen Bedrohung wurde in den kleinen Staaten Europas erneut intensiv über deren geschichtliche Bedeutung nachgedacht. «Wir leben in einer besessenen Welt», bekundete 1935 der Niederländer Johan Huizinga — als Optimist, wie er betonte.25Er schrieb gegen die «Anhänger des amoralischen Staates» und gegen den neuen Heroismus als eine Folge der Sucht nach Grösse, deren Verbin- 260Dieter Langewiesche
	        

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