Als mildernd für beide Beschuldigten berücksichtigte
das Landgericht «das freie Geständnis der strafbaren
Handlung» und dass sie keine Schäden angerichtet hat-
ten.
Aus diesen Gründen verurteilte Landrichter Kessler
Ferdinand Sele zu einer Arreststrafe von vier Wochen
und Gottlieb Schädler zu einer Arreststrafe von acht Ta-
gen. Beide Beschuldigten hatten die Untersuchungskos-
ten zu tragen.
Gnadengesuch Ferdinand Sele
Ferdinand Sele reichte am 19. September ein Gnaden-
gesuch ein.”
Er richtete seine «Unterthanigste Bitte» um «allergné-
digste Erlassung der über ihn verhángten Arreststrafe
von vier Wochen» an den Durchlauchtigsten Fürsten
und Allergnádigsten Landesherrn.
Sele begründete sein Gnadengesuch mit den nachfol-
gend genannten Argumenten:
Einleitend hielt Sele fest, dass ein vierwóchiger Arrest
seinem Haushalt «einen sehr bedeutenden Schaden»
verursachen würde.
Als weitere Argumente führte er an:
1. In seinen jungen Jahren war er bei den von den fürst-
lichen Jägern veranstalteten Jagden als Treiber einge-
setzt worden. Dadurch wurde in ihm «die Liebe und
Freude zum Jagen wachgerufen».
2. Da die Hochjagd an den Fürsten verpachtet ist, ist
ihm als Einwohner von Triesenberg ein solches Ver-
gnügen «selbst gegen Entgelt nicht gegónnt».
3. Als Vater von vier noch kleinen Kindern wáre der
Gesuchsteller «daher bei einer vierwóchentlichen Ab-
wesenheit bemüssiget, eine fremde Mannsperson zu
seinem Haushalt zu stellen und zu bezahlen».
4. Der Bittsteller fühlte sich schon «stark dadurch be-
straft, dass er das sich ereignete Unglück mit ansehen
musste, welches ihm gewiss für alle Zukunft als War-
nung dienen wird».
Sele bat «in aller Unterthànigkeit», «Euere Hochfürstliche
Durchlaucht» geruhen, die verhángte Arreststrafe «aller-
gnádigst» zu erlassen, «wofür Bittsteller solange ihm Gott
sein Leben schànkt, den heissesten Dank zollen wird».
Das Fürstlich Liechtenstein'sche Appellationsgericht
in Wien eróffnete dem Landgericht am 30. Oktober per
Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 116, 2017
Decret, «dass Seine Durchlaucht diesem Gnadengesuche
keine Folge zu geben geruht habe».?
Das Landgericht informierte Ferdinand Sele über die-
sen Entscheid des Appellationsgerichts am 6. November
1871.“ In lakonischer Kürze teilte das Landgericht Sele
mit: «Sie haben sich am 9. d. M. um 9 Uhr zum Straf-
antritt hier zu stellen».
Zusammenfassende Einordnung
Der Vorfall vom 3. September 1871 wurde durch die zu-
ständige Behörde — dies betraf vor allem Landesverweser
von Hausen - zügig untersucht und ohne weitere Kom-
plikationen aufgeklart. Von Hausens Vorgehen war ge-
prägt von Kompetenz und Sachverstand. Die anfäng-
lichen Unklarheiten, die sich durch die Aussage der Mut-
ter des Verunglückten ergaben, waren durch die weite-
ren Einvernahmen von beteiligten Zeugen rasch beseitigt.
Ebenso konnten Vermutungen, dass Schädler von einem
seiner Begleiter aus Unachtsamkeit erschossen worden
sei, als nicht sachlich begründet entkräftet werden.
Von Hausen ging in seiner Untersuchung verschiede-
nen Hinweisen nach, welche ihm durch Zeugenaussagen
oder durch Mitteilung auf anderem Weg zugekommen
waren. Dies zeigt sich etwa dadurch, dass alle Zeugen —
auch Minderjährige gehörten dazu — vorgeladen wur-
den, die in irgendeiner Weise zur Aufklärung des Vor-
ganges des Unglücksfalles beitragen konnten.
Was die Mutter bewogen haben mag, ihre Aussage
über den Fundort der Leiche des Verunglückten zu ma-
chen, kann nur vermutet werden. Möglicherweise wollte
sie ihren verunglückten Sohn davor schützen, dass er mit
Wilddiebstahl in Zusammenhang gebracht wurde. Ihre
Aussage stützte sich jedoch auf eine sehr schwache Ar-
39 LILA J 003/S 1871/073; Rub. VII. Griinde und Rub. VIII. Urtheil
vom 16. September 1871.
40 Ebenda.
41 LILAJ 003/S 1871/073; Aussage des Ortsvorstehers Josef Gassner
vor dem Landgericht am 16. September 1871.
42 LI LA J 003/S 1871/073; Gnadengesuch des Ferdinand Sele vom
19. September 1871.
43 LILA J 003/S 1871/073; Das Fürstlich Liechtenstein'sche Appella-
tions-Gericht an das Landgericht in Vaduz, 30. Oktober 1871.
44 LILA]J 003/S 1871/073; Landgericht an Ferdinand Sele, 6. Novem-
ber 1871.
77