Einleitung
Ein Mann aus Turin, der sich im frühen 19. Jahrhundert
in Liechtenstein einbürgern liess, fällt grundsätzlich auf.
Neben Johann Felix Real aus Gressoney, der 1867 das
volle Bürgerrecht der Gemeinde Vaduz erlangte, war
Karl Bello aus Turin im 19. Jahrhundert wohl der einzige
Mann, der aus dem damaligen Königreich Sardinien-
Piemont stammte und im Fürstentum eingebürgert
wurde.! Beiden war gemeinsam, dass sie in Liechtenstein
Ehefrauen fanden, und dass sie im Handelsgewerbe tä-
tig waren.?
Damit enden aber die Gemeinsamkeiten zwischen
Real und Bello. Wáhrenddem Johann Felix Real als rela-
tiv vermógende sowie angesehene Person in Vaduz bis
zum Bürgermeister aufstieg, geriet Karl Bello wiederholt
mit dem Gesetz in Konflikt. Im Liechtensteinischen
Landesarchiv in Vaduz befindet sich ein umfangreicher
Bestand mit Kriminalakten zu Karl Bello. Diese Akten
datieren zu einem grossen Teil aus den Jahren 1822 und
1823. Sie bilden, bislang von der Forschung unbeachtet,
die Grundlage für diesen Beitrag.?
Es zeigt sich, dass Karl Bello wohl die meiste Zeit sei-
nes Lebens nicht sesshaft war. Im Vergleich zum Beitrag
im vorhergehenden Jahrbuch über Heimatlose und Fah-
rende im 19. Jahrhundert! muss jedoch klar festgehalten
werden: Anders als die dort vorgestellten mittellosen
Menschen, die sich — aus ihrer Notlage heraus — in der
Regel nur kleinere Delikte zuschulden kommen liessen,
war Karl Bello eindeutig kriminell. Durch seine notori-
schen Diebstähle und Einbrüche fügte er anderen Men-
schen grossen Schaden zu. Wir wissen indes nicht, aus
welchen Gründen Karl Bello in dieses Fahrwasser gera-
ten ist.
Zu Beginn des Jahres 1820 hatte Karl Bello in Nendeln
(in der Gemeinde Eschen) ein Haus gekauft und die aus
Schellenberg stammende Elisabeth Ender geheiratet.
Karl Bello war im selben Jahr auf sein Ansuchen hin in
Eschen eingebürgert worden, mitsamt den vollen Nut-
zungsrechten in der Gemeinde. Seine Frau erwartete ein
Kind von ihm. In diese Ehe brachte Karl Bello die aus ei-
ner früheren Beziehung stammende Tochter Franziska
mit ein, die ebenfalls in Eschen eingebürgert wurde.” Mit
grosser Wahrscheinlichkeit wussten die Behörden in
Liechtenstein (und in Eschen) zu diesem Zeitpunkt noch
nichts von Karl Bellos krimineller Vergangenheit.
Die in Feldkirch unter Arrest stehende Katharina
Unold, die vor 1820 mit Karl Bello zwei Kinder gezeugt
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hatte, konfrontierte ab 1822 den Handelsmann aus Turin
mit seiner Vergangenheit. Katharina Unold machte ihre
ersten überlieferten Aussagen dazu auf dem Zivil- und
Kriminalgericht für Vorarlberg in Feldkirch: Karl Bello
sei nicht nur der Vater dieser zwei unehelichen Kinder,
er sei darüber hinaus ein Beutelschneider, ein berüchtig-
ter Marktdieb. Tatsáchlich war — wie es sich zeigen
sollte — Karl Bello wegen diverser Diebstáhle vorbestraft.
Er konnte jedoch mehrmals aus der Gefangenschaft ent-
weichen.^
Der heute nicht mehr gebräuchliche Begriff «Beutel-
schneider» bezeichnet nicht etwa einen Hersteller von
Lederbeuteln, sondern einen Dieb, der auf raffinierte
Weise den Leuten die Taschen leerte. Es gibt im Liech-
tensteinischen Landesarchiv weitere Akten, die auf
eine grössere Bande an Beutelschneidern verweisen,
die regional und überregional tätig war. So heisst es in
einer gedruckten Bekanntmachung des erwähnten
Zivil- und Kriminalgerichts Feldkirch vom 12. Novem-
ber 1821:
«Es liegen gegenwärtig einige Glieder einer sehr ausge-
dehnten über 20 Köpfe zählenden jüdischen Jauner-Rotte
bei dem allhiesigen Kriminalgerichte ein, welche seit 12 bis
15 Jahren in kleineren Abtheilungen die Jahr- und
Viehmärkte von ganz Deutschland und der Schweiz, und
vorzüglich auch die vorarlbergischen Herbstmärkte zu
Bregenz, Schwarzenberg, Dornbirn, Rankweil, Feldkirch,
Bludenz und Schruns zu besuchen pflegten, und deren
schändliches Gewerbe einzig im Beutelschneiden oder Ta-
schen-Geld-Diebstühlen bestund.»?
Der heute ebenfalls kaum noch verwendete Begriff «Jau-
ner» bezeichnet nicht-sesshafte Menschen, die ihren
Lebensunterhalt durch gewerbsmässigen Raub und
Diebstahl bestritten.? Es bestand der Verdacht, dass Karl
Bello ebenfalls zu diesen «Jaunern» (auch: «Gaunern»)
zählte. Obwohl er vermutlich nicht einer grösseren
Bande angehörte, hatte er bei seinen Raubzügen oft
Komplizen.? Bello verübte offenbar keine Beutelschnei-
dereien in Liechtenstein selbst, doch Diebstáhle bildeten
im frühen 19. Jahrhundert auch im Fürstentum den
Hauptteil der begangenen Straftaten." In diese Kategorie
gehóren auch kleinere Delikte wie «Holzfrevel» (Holz-
diebstáhle), die — wie bereits angedeutet — von mittel-
losen Menschen meist aus ihrer persónlichen Notsitua-
tion heraus begangen wurden.
Biedermann Klaus: Ein Beutelschneider aus Turin wird Liechtensteiner