Volltext: Jahrbuch (2017) (116)

man in der Krise versuchte, in einem ersten Schritt das 
Kleinvieh abzustossen und erst in grosser Not bereit 
war, Milchkühe, Ochsen und Pferde zu veräussern, ent- 
sprach einem typischen Verhaltensmuster in Krisen.” Im 
Vergleich zum Kanton Appenzell Ausserrhoden, wo we- 
gen Futtermangels ein Grossteil der Kühe geschlachtet 
werden musste,”* wurde der Grossviehbestand in Liech- 
tenstein nur in geringem Mass reduziert; man hat die 
kostbaren Rinder in der Hoffnung auf bessere Zeiten 
moglichst geschont. 
Wie Schuppler schreibt, konnten sich viele Leute 
Fleisch schlicht nicht leisten. Rinder und Kühe waren zu 
wertvoll, um sich davon zu trennen. Eine Erklärung für 
den geringen Fleischkonsum sind auch gesundheitliche 
Bedenken: Verdorbenes Fleisch konnte tödliche Krank- 
heiten verursachen. Eine Verordnung vom 14. Januar 
1817 des Kantons Graubünden betreffend ein Sauerkraut- 
ausfuhrverbot illustriert dies: Die Verordnung wurde 
nicht mit Nahrungsmittelmangel begründet, sondern 
mit «pflichtmässiger Sorge für die Gesundheit der Angehö- 
rigen des Standes». Diese müssten «den Abgang an den 
gewohnten Mehlspeisen durch vermehrten Genuss des Flei- 
sches ersezen». Um der Ansteckung mit «Faulfieber» 
(Fleckfieber, Typhus) entgegenzuwirken, wurde der 
Konsum von «säuerlichen Speisen» empfohlen.” 
Das zitierte Schreiben Schupplers vom 11. Januar 
1817 liefert eine Bestätigung, dass Pferdefleisch norma- 
lerweise nicht gegessen wurde, in der Not verzehrte 
man aber nun auch dieses. Möglicherweise hatte diese 
Abneigung ursprünglich einen religiösen Hintergrund: 
Im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm heisst 
es, dass das Fleisch der geopferten Pferde bei heidni- 
schen Opfermahlzeiten genossen wurde, «weshalb die 
neigung zum genusz des pferdefleisches lange verhaszt 
blieb und als hinneigung zum heidenthume ausgelegt 
wurde». 
Abschiebung von fremdem Gesindel, 
Bettlern und Vaganten 
Für die besitzlose Unterschicht war der Hunger lebens- 
bedrohlich. Im Kampf ums Überleben gab es kaum ehr- 
bare Möglichkeiten, sich selber zu helfen. In der Not ver- 
suchten es immer mehr Leute mit Betteln, Kleinkrimina- 
lität oder Auswanderung. 
Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 116, 2017 
Die Zunahme des Bettels ist in Kriegsjahren und Hun- 
gerkrisen ein typisches Phänomen. Im Mittelalter war 
das Bettelwesen gesellschaftlich durchaus akzeptiert, da 
vermögende Christen glaubten, sich mit Almosen und 
karitativen Werken das Seelenheil kaufen zu können. In 
der frühen Neuzeit kam es zu einer Differenzierung zwi- 
schen «würdigen Armen» (ehrlichen, fleissigen, aber 
kranken Leuten) und «unwürdigen Bettlern» (betrügeri- 
schen, gesunden, arbeitsscheuen Vaganten). Bettler und 
Bettlerinnen rückten damit in die Nähe von Kriminellen. 
Landstreicher, Kessler, welsche Krämer, Vaganten und 
Bettler waren abwertende Begriffe für Leute, die umher- 
zogen, irgendwelchen (auch unehrenhaften) Gewerben 
nachgingen, aber eigentlich heimatlos waren. Gerade 
christliche Kreise verlangten vehement, dass sich Bettler 
durch Arbeit selber helfen sollten. Ihre Arbeitsscheu sei 
Ungehorsam gegen Gott und die Obrigkeit.” 
Als Bedrohung empfunden wurden Bettler vor allem, 
wenn sie gruppenweise auftraten. Unterschieden wurde 
zwischen einheimischen Armen (auch «Hausarme» ge- 
nannt), die man nicht wegschicken konnte und denen 
man unter Umständen sogar helfen musste, und fremden 
Bettlern, die man unbedingt loswerden wollte. Von der 
Obrigkeit wurde das Betteln verboten und bekämpft. Mit 
sogenannten «Streifen» wurde in Zusammenarbeit mit 
den Gemeinden Jagd auf das «fremde Gesindel» gemacht. 
Der Erfolg war jedoch bescheiden: Oft kehrten Bettler, die 
über die Grenze gestellt wurden, früher oder später wie- 
der zurück. Das Problem lag tiefer: Viele heimatlose Bett- 
ler fanden keine Arbeit, von der sie leben konnten. 
Die Polizeistreifen wurden in der Not intensiviert. In 
der Oberamtsverordnung vom 7. Juni 1817 reklamierte 
Schuppler bei den Gemeinden, weil «das im Land herum- 
69  LILA AV 2/4, 1817, Nr. 28 und Nr. 41. 
70 LILA AV 2/4, 1817 Nr. 28, Mitteilung des Feldkircher Land- 
gerichts vom 1. Februar 1817. 
71 LILAL 3/1817. 
72 Berechnung aufgrund der Angaben bei Ospelt, Wirtschafts- 
geschichte, Anhang, S. 148 f. und 160 ff. 
73  Krámer, Menschen, S. 177. 
74  Ebenda, S. 69. 
75  CHSTA GR STG XV 8d/42. Verordnung des Kleinen Rats vom 
14. Januar 1817. 
76 Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Deutsches Wórterbuch, Stich- 
wort «Pferdefleisch». 
77 Zum Bettelwesen siehe HLFL und HLS, jeweils Stichwort «Bettel- 
wesen». 
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