man in der Krise versuchte, in einem ersten Schritt das
Kleinvieh abzustossen und erst in grosser Not bereit
war, Milchkühe, Ochsen und Pferde zu veräussern, ent-
sprach einem typischen Verhaltensmuster in Krisen.” Im
Vergleich zum Kanton Appenzell Ausserrhoden, wo we-
gen Futtermangels ein Grossteil der Kühe geschlachtet
werden musste,”* wurde der Grossviehbestand in Liech-
tenstein nur in geringem Mass reduziert; man hat die
kostbaren Rinder in der Hoffnung auf bessere Zeiten
moglichst geschont.
Wie Schuppler schreibt, konnten sich viele Leute
Fleisch schlicht nicht leisten. Rinder und Kühe waren zu
wertvoll, um sich davon zu trennen. Eine Erklärung für
den geringen Fleischkonsum sind auch gesundheitliche
Bedenken: Verdorbenes Fleisch konnte tödliche Krank-
heiten verursachen. Eine Verordnung vom 14. Januar
1817 des Kantons Graubünden betreffend ein Sauerkraut-
ausfuhrverbot illustriert dies: Die Verordnung wurde
nicht mit Nahrungsmittelmangel begründet, sondern
mit «pflichtmässiger Sorge für die Gesundheit der Angehö-
rigen des Standes». Diese müssten «den Abgang an den
gewohnten Mehlspeisen durch vermehrten Genuss des Flei-
sches ersezen». Um der Ansteckung mit «Faulfieber»
(Fleckfieber, Typhus) entgegenzuwirken, wurde der
Konsum von «säuerlichen Speisen» empfohlen.”
Das zitierte Schreiben Schupplers vom 11. Januar
1817 liefert eine Bestätigung, dass Pferdefleisch norma-
lerweise nicht gegessen wurde, in der Not verzehrte
man aber nun auch dieses. Möglicherweise hatte diese
Abneigung ursprünglich einen religiösen Hintergrund:
Im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm heisst
es, dass das Fleisch der geopferten Pferde bei heidni-
schen Opfermahlzeiten genossen wurde, «weshalb die
neigung zum genusz des pferdefleisches lange verhaszt
blieb und als hinneigung zum heidenthume ausgelegt
wurde».
Abschiebung von fremdem Gesindel,
Bettlern und Vaganten
Für die besitzlose Unterschicht war der Hunger lebens-
bedrohlich. Im Kampf ums Überleben gab es kaum ehr-
bare Möglichkeiten, sich selber zu helfen. In der Not ver-
suchten es immer mehr Leute mit Betteln, Kleinkrimina-
lität oder Auswanderung.
Historischer Verein für das Fürstentum Liechtenstein, Jahrbuch Band 116, 2017
Die Zunahme des Bettels ist in Kriegsjahren und Hun-
gerkrisen ein typisches Phänomen. Im Mittelalter war
das Bettelwesen gesellschaftlich durchaus akzeptiert, da
vermögende Christen glaubten, sich mit Almosen und
karitativen Werken das Seelenheil kaufen zu können. In
der frühen Neuzeit kam es zu einer Differenzierung zwi-
schen «würdigen Armen» (ehrlichen, fleissigen, aber
kranken Leuten) und «unwürdigen Bettlern» (betrügeri-
schen, gesunden, arbeitsscheuen Vaganten). Bettler und
Bettlerinnen rückten damit in die Nähe von Kriminellen.
Landstreicher, Kessler, welsche Krämer, Vaganten und
Bettler waren abwertende Begriffe für Leute, die umher-
zogen, irgendwelchen (auch unehrenhaften) Gewerben
nachgingen, aber eigentlich heimatlos waren. Gerade
christliche Kreise verlangten vehement, dass sich Bettler
durch Arbeit selber helfen sollten. Ihre Arbeitsscheu sei
Ungehorsam gegen Gott und die Obrigkeit.”
Als Bedrohung empfunden wurden Bettler vor allem,
wenn sie gruppenweise auftraten. Unterschieden wurde
zwischen einheimischen Armen (auch «Hausarme» ge-
nannt), die man nicht wegschicken konnte und denen
man unter Umständen sogar helfen musste, und fremden
Bettlern, die man unbedingt loswerden wollte. Von der
Obrigkeit wurde das Betteln verboten und bekämpft. Mit
sogenannten «Streifen» wurde in Zusammenarbeit mit
den Gemeinden Jagd auf das «fremde Gesindel» gemacht.
Der Erfolg war jedoch bescheiden: Oft kehrten Bettler, die
über die Grenze gestellt wurden, früher oder später wie-
der zurück. Das Problem lag tiefer: Viele heimatlose Bett-
ler fanden keine Arbeit, von der sie leben konnten.
Die Polizeistreifen wurden in der Not intensiviert. In
der Oberamtsverordnung vom 7. Juni 1817 reklamierte
Schuppler bei den Gemeinden, weil «das im Land herum-
69 LILA AV 2/4, 1817, Nr. 28 und Nr. 41.
70 LILA AV 2/4, 1817 Nr. 28, Mitteilung des Feldkircher Land-
gerichts vom 1. Februar 1817.
71 LILAL 3/1817.
72 Berechnung aufgrund der Angaben bei Ospelt, Wirtschafts-
geschichte, Anhang, S. 148 f. und 160 ff.
73 Krámer, Menschen, S. 177.
74 Ebenda, S. 69.
75 CHSTA GR STG XV 8d/42. Verordnung des Kleinen Rats vom
14. Januar 1817.
76 Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Deutsches Wórterbuch, Stich-
wort «Pferdefleisch».
77 Zum Bettelwesen siehe HLFL und HLS, jeweils Stichwort «Bettel-
wesen».
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