Volltext: Jahrbuch (2014) (113)

46 Sonderegger Stefan: Das Liechtensteinische Urkundenbuch digital, Teil 
II 
das im Fürstentum Liechtenstein auch heute noch in Kraft 
ist.52 Wasserfluchtrecht Nicht nur am Berg, sondern auch im Tal war ein ge- wisses Mass an Solidarität untereinander erforderlich, um schwierige Lagen oder Katastrophen zu meistern oder mit Prävention deren Folgen zu mildern. Den Rhein des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit muss man sich als ein sich ständig veränderndes, zopfartiges Geflecht von Bächen und Flussarmen mit wenig Gefälle vorstellen, das durch das Tal mäandrierte.53 In der Re- gel wird es ein friedliches Gewässer gewesen sein, das in der Ebene Siedlungen und landwirtschaftliche Nutzung zuliess. Letzterer dienten vor allem Auen. Das waren Landstriche entlang eines Flusses, die periodisch über- schwemmt wurden und die vor allem als Viehweiden und Wiesen und allenfalls als Äcker genutzt wurden. Auen waren durchsetzt von Bäumen. Beim Auwald han- delte es sich mehrheitlich um einen Niederwald, dessen Holz alle 10 bis 20 Jahre genutzt wurde. Wurde in den Auen zuviel Holz geschlagen, konnte die Wiederauf- forstung nicht Schritt halten, und dem Boden fehlte die Fixierung. Die Folge davon war Landabtrag durch den Wasserlauf und somit der Verlust von landwirtschaft- licher Nutzfläche.54 Verbote des Entfernens von Bäumen und Sträuchern in Auen wie jenes vom 25. April 1487 zwischen Maien- feld und Jenins dienten in zweierlei Hinsicht dem Erhalt von Agrarland. Das Wurzelwerk sorgte für mehr Stabili- tät, und wenn trotzdem gerodet wurde, sollte das Holz für den Bau von künstlichen Anlagen gegen Landabtrag und Überschwemmungen dienen, nämlich für Wuhren. Wuhren waren dammartige Uferbefestigungen, die aus Baumstämmen, Stauden und Steinen, also aus dem Ma- terial, das grösstenteils in den Auen verfügbar war, ge- baut wurden. In der erwähnten Urkunde vom 25. April 1487 wird das Rodungsverbot explizit damit begründet, dass man das Gehölz bei Bedarf zum Wuhren brauchen könne. Es gab zwei Arten von Wuhren. Mit den so genann- ten Streichwuhren versuchte man die Uferunterspülung und den Landabtrag durch das Wasser zu verhindern oder zumindest zu verlangsamen. Sie veränderten den Flusslauf aber nicht. Andere Wuhren hingegen waren so angelegt, dass sie die Strömung des Flusses wieder in die 
Mitte des Flussbettes lenkten, oft mit dem Erfolg, dass die Erosion auf der gegenüberliegenden Seite begann. Sie «schupften», d. h. stiessen das Wasser vom eigenen Ufer weg auf das gegenüberliegende und wurden des- halb «Schupfwuhren» genannt. Die Folge davon war ein erhöhter Landabtrag auf derjenigen Seite, auf welche die Strömung «geschupft» wurde. Insbesondere die Schupf- wuhren boten Anlass zu langwierigen Konflikten zwi- schen einander gegenüberliegenden Gemeinden.55 Der Unterhalt von Auen und Wuhren ist vergleichbar mit jenen von Alpen. Zum regulären Unterhalt der Al- pen gehörte zu Beginn der Saison deren Räumung von Geröll, das sich über das Jahr auf den Weideflächen an- sammelte, oder das Aufräumen nach Lawinenniedergän- gen. Arbeiten zur Wiederinstandstellung von kollektiv genutztem Weideland auf der Alp oder in den Auen im Tal war Pflicht aller Nutzungsberechtigten. Erdrutschen und Lawinen auf der Alp entsprachen in der Rheinebene Überschwemmungen. Im Gegensatz zu Lawinen besteht aber im Falle von Hochwasser als Folge von Dauerregen eine Art Vorwarnzeit, die noch kurzfristige Präventiv- massnahmen ermöglicht. Bei drohendem Hochwasser versuchte man offenbar zum Schutz der Siedlungen die Wuhren mit herbeigeführtem Material zu verstärken, wie beispielsweise aus einem Schreiben von Wolfhart von Brandis an den Bürgermeister und Rat von Chur vom 9. Juli 1472 zu schliessen ist. Brandis bat die Churer, die Kornlieferungen für den Churer Markt an einem anderen Tag zuzulassen, da die Fuhrleute dringend für Wuhrarbeiten gebraucht wurden. Brandis schrieb, die Getreidetransporte hätten nicht ausgeführt werden kön- nen, da die Kornführer aus seinem Herrschaftsgebiet «an unser Wuor im Rine, da es gross . . . Not ist gewesen, müssen arbaiten und füren». Einem am 7. August 1497 von Ludwig von Brandis auf dem Schloss Vaduz durchgeführten Schiedsverfahren um Weiderechte zwischen Ruggell und Schellenberg ist zu entnehmen, dass analog zum Schneefluchtrecht am Berg ein Wasserfluchtrecht im Tal existierte. Die Ruggeller be- wirtschafteten die Rheinebene und wohnten wahrschein- lich auch dort. Gelegentliches Hochwasser wurde in Kauf genommen, jedoch mit einer Art Notstandsrecht wie bei der Schneeflucht abgesichert. Dieses bestand darin, dass die Ruggeller gegenüber ihren Nachbarn am Schellen- berg das Recht erwirkten, bei Überschwemmungen über ihre Grenzen hinweg auf das höher gelegene Gebiet der
	        

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