92Kuratli Hüeblin Jakob: Das Jahrzeitbuch von
Eschen
Statt Stiftungen mit einmaligem wurden nun Stiftungen mit immerwährendem Nutzen für die Seele bevorzugt. Mit dem Bewusstsein, dass man im Jenseits auf inten- sive Gebetshilfe der Lebenden angewiesen war, erwachte auch die Angst, im Fegefeuer vergessen zu werden. In den neuen, seit Pfarrer Kaspar Ammann entstandenen Einträgen im Eschner Jahrzeitbuch finden wir denn auch wiederholt Klauseln, mit denen die Stifterinnen und Stif- ter ein solches Vergessen verhindern wollten.92 Ursel Mundlin etwa, Caspar Haslers Ehefrau, versprach dem Eschner Pfarrer jährlich einen Schilling Pfennig, wenn er nach ihrem Tod jeweils zum 1. Februar eine Seelmesse für sie lese.93 Offenbar befürchtete sie aber, dass irgend- ein nachlässiger Priester seinen Verpflichtungen einmal nicht nachkommen und ihr Andenken vergessen könnte. Damit in einem solchen Fall ihr Geld nicht nutzlos inves- tiert war, bestimmte sie, dass bei unterbleibender Ge- denkleistung des Pfarrers der Erlös aus ihrer Stiftung nicht an ihn, sondern an den heiligen Martin fallen solle. Wenn schon nicht der Priester mit einer Messfeier die Läuterung im Fegefeuer beschleunigte, dann wollte Ur- sel Mundlin doch wenigstens den heiligen Martin im Himmel für eine Fürbitte gewinnen. Diese Erlösungsstra- tegie war ja ebenfalls erfolgsversprechend. Auch Jörg Schreiber und seine Frau Elsa Müller, de- ren Gedächtnis in den acht Tagen vor oder nach St. An- dreas (30. November) zu halten war, sorgten vor, indem sie ihrer Stiftung die Klausel
beifügten: «vnd welches jars das jarzit nit begangen wùrd, so yst des sel- bigenn das gelt sant Marty verfallenn vnd sols ain Kilchenmayer jnziechenn».94 Im spätmittelalterlichen Eschen wachte also ein Kirchen- meier – ein Kirchenpfleger – über die korrekte Ausfüh- rung der Jahrzeitgedächtnisse. Wenn der Pfarrer eine Seelmesse ausliess, blieb ihm auch der versprochene Lohn vorenthalten. Stattdessen floss das Geld in die Kasse des heiligen Martin, in die Kirchenstiftung, die der Kirchenpfleger verwaltete. Gemäss dem zweiten Konzil von Lyon hatten sämtliche Hilfeleistungen für die Armen Seelen im Fegefeuer «entsprechend den Anordnungen der Kirche» zu erfolgen. Diese Monopolisierung der To- tenhilfe brachte der Kirche sehr viel Macht und Reich- tum.95
Die «Laisierung» der Verwaltung des Kirchenguts durch die Kirchenpflegerschaft wirkte dem entgegen. Das Kirchenvermögen wurde als eine Angelegenheit der
Die Erinnerung der Namen der Verstorbenen dürfte dank der kalendarischen Organisation des Eschner Jahr- zeitbuchs kaum Schwierigkeiten bereitet haben. Auch der Stiftungszweck und die zusätzlichen Ausführungs- bestimmungen (Vigilien, gesprochene oder gesungene Seelmessen, Verkündigung des Namens von der Kanzel etc.) waren eindeutig und blieben über Jahrhunderte hin- weg nachvollziehbar. Allerdings halten knapp ein Drittel der Eintragungen im Kalender des Eschner Jahrzeitbuchs gar keine näheren Stiftungsbestimmungen
fest.85 «Item Els Sw�rtzin vnd �lin ir man die hond gelon durch iro sell hail willen iiij dn. ab dem Wasen ab Sinis». So lautet etwa der Eintrag zum 3. September.86 Eine ‹Ge- genleistung› der Kirche beziehungsweise des Priesters wird hier und auch in zahlreichen weiteren Stiftungen nicht erwähnt. Nur der Hinweis auf das Seelenheil be- gegnet uns. Die Interpretation dieser Einträge ist schwie- rig und lässt uns zunächst einen Blick auf die Entstehung des Eschner Jahrzeitbuchs werfen.87 Pfarrer Kaspar Ammann legte das Jahrzeitbuch um das Jahr 1440 neu an. Allerdings gab es damals in Eschen bereits ein älteres – heute verlorenes – Jahrzeit- bezie- hungsweise Seelgerätbuch, das gemäss Franz Perret nach 1350 entstanden sein dürfte. Daraus übernahm Pfarrer Ammann etwa 70 bis maximal 100 Einträge.88 Er und seine Nachfolger, die das Jahrzeitbuch bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts weiterführten, fügten noch unge- fähr 100 neue Stiftungen hinzu, darunter einige sehr aus- führliche. Sämtliche knapp 60 Eintragungen im Kalender, die keinen näheren Stiftungszweck benennen, wurden von Pfarrer Ammann geschrieben. Er dürfte sie – wenigstens zum grössten Teil – aus dem alten Jahrzeitbuch über- nommen haben. Vielleicht kürzte er beim Übertrag die von der Kirche zu erbringenden Leistungen jeweils weg, möglicherweise weil sie stets den gleichen – ihm damals noch geläufigen – Inhalt hatten.89
Es ist aber auch denk- bar, dass gar nicht alle Stiftungen, die Pfarrer Ammann aus dem alten Verzeichnis übernahm, Gegenleistungen von Seiten der Kirche vorgesehen hatten.90 Vielleicht be- gannen die Eschnerinnen und Eschner erst im Verlauf des 15. Jahrhunderts, ihre frommen Stiftungen konsequent an ständig wiederkehrende kirchliche Gegenleistungen zu knüpfen, weil ihnen bewusst geworden war, dass das Fe- gefeuer neue Vorsorgepläne für das Jenseits erforderte.91
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