Volltext: Jahrbuch (2013) (112)

82Kuratli Hüeblin Jakob: Das Jahrzeitbuch von 
Eschen 
Der «Spiegel des Sünders» (Augsburg, 1480) verpflichtet die Hinte- bliebenen, für ihre verstorbenen Angehörigen zu 
sorgen. 
hält alle wesentlichen Komponenten, die seit Augustinus das Dossier des Fegefeuers konstituieren 
…».48 Wenn wir uns vor Augen halten, dass die 
Legenda aurea im Spätmit- telalter das bekannteste, am weitesten verbreitete religi- öse Volksbuch war, dann dürfen wir davon ausgehen, dass die damaligen Menschen ziemlich fundiert über das Fegefeuer Bescheid wussten. Dass sich die Menschen für das Fegefeuer interessier- ten, ist evident. Die Perspektiven, die es eröffnete, waren gewaltig. Die Existenz des Fegefeuers beeinflusste das Leben, den Tod und das Leben nach dem Tod. Beson- dere Bedeutung erhielt die Zeit unmittelbar um den Tod herum, denn 
«in extremis bestand sogar noch für den, der wenigstens begonnen hatte zu bereuen, die Hoffnung, der Hölle zu entgehen und nur ins Fegefeuer zu kom- men».49 Allerdings wurde ausdrücklich davor gewarnt, 
die Busse bis zum Lebensende hinauszuschieben, nicht nur, weil einen der Tod unvorbereitet ereilen konnte. In der 
Legenda aurea beispielsweise heisst es mit Berufung auf Augustinus, dass es durchaus nicht gewiss sei, ob auch die späte Reue noch vor der Hölle schützen könne. Denn eine Reue, die aus der Not heraus komme, sei an- ders zu gewichten als eine Reue aus freiem Willen.50 Aus- serdem waren die Strafen im Fegefeuer unvergleichbar viel härter als die Bussübungen, die auf der Erde geleistet werden konnten, furchtbarer sogar als jedes Martyrium.51 Sofort nach dem Tod wurde Gericht gehalten. Die Entscheidung, wer zu den Erwählten gehörte und wer zu den Verdammten, erfolgte nicht erst am Jüngsten Tag. Die individuelle Todesstunde erhielt dadurch eine enorme Bedeutung, in ihr entschied sich, wer sogleich der Freuden des Himmels teilhaftig wurde und wer die Qualen des Fegefeuers oder der Hölle erleiden musste. Die Peinigungen im Fegefeuer konnten durchaus mit jenen der Hölle verglichen werden, doch war das Fe- gefeuer nur eine «Hölle auf Zeit».52 Wer nach dem Tod ins Fegefeuer musste, hatte wenigstens die Gewissheit, dass er dereinst – spätestens am Jüngsten Tag – in den Himmel einziehen werde. Selber helfen konnte er sich nicht mehr. Doch seinen Angehörigen und Freunden waren zahlreiche Mittel an die Hand gegeben, die ihm in seiner Qual Linderung verschaffen und ihn sogar erlö- sen konnten: «Messopfer, Gebete, Almosen und andere Werke der Frömmigkeit.» Die Lebenden trugen damit eine grosse Verantwor- tung für die Verstorbenen. Das Vergessen der Toten wurde von mittelalterlichen Predigern denn auch als schwere Sünde gebrandmarkt: «Bist du nach jrem tod nicht eingedencke gewesen mit deynem gebette almůsen vnd meß haben lassen iren selen. ... es ist dir schw�rlichen sünd.»53 So heisst es in einem Beichtspiegel des 15. Jahrhunderts. Trotz dieses klaren Verdikts konnten sich die Menschen offenbar nicht darauf verlassen, dass ihre Angehörigen ihr Andenken auch nach dem Tod aufrechterhielten und mit ihren Fürbitten für eine möglichst schnelle Erlösung aus dem Fegefeuer sorgten. Zahlreich waren die Berichte über Erscheinungen von Armen Seelen, die sich über die Nach- lässigkeit der Lebenden beklagten. Aber auch Katastro- phen wie Hungersnöte oder die Pest, die bisweilen ganze Familienverbände auslöschten, bedrohten das Andenken. Kapitel_2_Kuratli.indd   8211.06.13   15:44
	        

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