Volltext: Jahrbuch (2012) (111)

54Schindling Anton: Karl VI. und das Heilige Römische Reich deutscher Nation im Jahr 
1712 
Konvenienzpolitik zwischen 1720 und 1740 und der Bewältigung der Krise des Polnischen Thronfolgekriegs 1733 bis 1738 mit einem multilateralen Interessenaus- gleich konnte der Wiener Hof zwar hoffen, die Landes- herrschaft Maria Theresias in den Ländern der Habsbur- ger Monarchie durchzusetzen. Aber ob weitergehende Ziele wie die Sicherung der römischen Kaiserwürde für ihren Ehemann, den Herzog Franz Stephan von Lothrin- gen, realisierbar sein würden, musste den künftigen poli- tischen Konjunkturen überlassen bleiben. Die Ära Kaiser Karls VI. brachte einen Höhepunkt in der Geschichte der Habsburger Monarchie. Der barocke Wiener Hof entfaltete sich nunmehr in voller Pracht. Be- drohungen durch Osmanen und ungarische Rebellen, die Kuruzzen, bestanden nicht weiter. Die Haupt- und Residenzstadt Wien verschönerte sich innerhalb ihrer Festungswälle und wuchs dynamisch über sie hinaus. Die Bauschöpfungen eines Johann Bernhard Fischer von Erlach und Lukas von Hildebrandt stehen dafür ebenso exemplarisch wie die Anlage der Wiener Vorstädte ent- lang der Ausfallsstrassen. Im Bau der Wiener Karlskirche mit seinen zahlreichen symbolischen Bezügen setzte Karl VI. mit Hilfe des Baumeisters Johann Bernhard Fischer von Erlach seiner Ära ein eindrucksvolles Denkmal. Die Votivkirche für das Ende der Pestepidemie in Wien war auch eine Dankkirche für den christlichen Sieg über die Osmanen und eine Erinnerung an die vergangene Weltherrschaft des Hauses Österreich. Wirtschaftlich flo- rierten die Lande zwischen Breslau und Triest, Freiburg im Breisgau und Kronstadt. In Südungarn, der Batschka und dem Banat begann mit den Donauschwaben ein grossformatiges Ansiedlungs- und Kultivierungswerk. Deren planmässige Auswanderung von Ulm aus über die Donau nahm mit Hilfe des Schwäbischen Reichs- kreises vor 300 Jahren im Jahr 1712 ihren Anfang. Im Heiligen Römischen Reich konnte die neue Prä- senz des habsburgischen Kaisertums, die Leopold I. nach dem Tiefpunkt des Dreissigjährigen Kriegs ein- geleitet hatte, unter seinen Söhnen weitergeführt und konsolidiert werden. Die wenig habsburgfreundlichen Kurfürsten von Bayern und Köln mussten nach dem Utrechter Frieden restituiert – das heisst in ihre Herr- schaftsrechte wieder eingesetzt – werden, und zwar ohne jegliche Gebiets- und Rangverluste. Darauf hatte der französische König Ludwig XIV. als einer Friedens- bedingung nachdrücklich bestanden. Aber der Wiener 
nöte der Wiener Habsburger waren während der Ausei- nandersetzungen mit dem Frankreich Ludwigs XIV. nur mit dem Subsidiengeld der reichen Seemächte zu behe- ben gewesen. Die neue Bedeutung der atlantischen Welt wird hierin deutlich, gegenüber der alle rein kontinen- talen Mächte ins Hintertreffen gerieten. Diese Entwick- lung hatte sich zur Zeit Karls V. gerade erst angekündigt, jetzt aber war sie voll entfaltet. Nicht mehr Augsburg und Nürnberg, Venedig und Florenz waren die Zentren des europäischen Handels und Geldwesens, sondern Amsterdam und London. Daran konnte kein Erbrecht der österreichischen Habsburger etwas ändern. Gerade das Erbrecht schuf zudem für Karl VI. neue belastende Probleme. Angesichts des Fehlens eines männlichen Erben entschloss er sich zu dem mutigen Schritt einer Änderung des dynastischen Hausgesetzes. In der Pragmatischen Sanktion von 1713 legte Karl VI. die vollberechtigte Erbfolge von Frauen im Haus Habs- burg fest. Die älteste Tochter sollte beim Fehlen eines männlichen Erben die Nachfolge antreten. Das salische Recht wurde so durch eine absolutistische Willensverfü- gung abgeschafft. Das Hausgesetz sollte durch herrscher- liche Willenserklärung unverbrüchliche Geltung haben. Dennoch wünschte Karl VI. die förmliche Zustimmung seitens der Stände aller habsburgischen Erbkönigreiche und Erblande: Von den Landtagen in Ungarn, Böhmen, Mähren und Schlesien über die Ständevertretungen der österreichischen Erblande bis zu den Landschaften in Vorarlberg und den Vorlanden stimmten in den kom- menden Jahren alle ständischen Vertretungen in den habsburgischen Territorien der Pragmatischen Sanktion zu und nahmen sie als Landesgesetz an. Damit hoffte Karl VI. die Erbfolge seiner ältesten Tochter Maria There- sia, die 1717 geboren wurde, abzusichern. Auch von den Reichsständen und den europäischen Mächten wollte Karl VI. die Zustimmung zu seinem neuen Hausgesetz erwirken. Seine Politik im Reich und in Europa stand unter diesem dynastiepolitischen Pri- mat. Dadurch wurden seine Handlungsspielräume stark eingeschränkt. Karl VI. erreichte zwar bis zu seinem vor- zeitigen und unerwarteten Tod 1740 die Anerkennung aller Reichsstände und europäischen Mächte für die Pragmatische Sanktion. Aber in mehreren Fällen, so bei Frankreich und Kurbayern, blieben die Anerkennungen derart vage, dass an ihrer Ernsthaftigkeit gezweifelt wer- den konnte. Nach den beiden Jahrzehnten europäischer Kapitel_2_Schindling.indd   5422.10.12   12:31
	        

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