Volltext: Jahrbuch (2012) (111)

52Schindling Anton: Karl VI. und das Heilige Römische Reich deutscher Nation im Jahr 
1712 
organisiert hatte, wollte auf keinen Fall die Herausbil- dung einer hegemonialen Macht, einer Universalmo- narchie, auf dem europäischen Kontinent dulden. Dies drohte aber nunmehr nicht mehr so sehr von der ge- meinsamen bourbonischen Dynastie in Versailles und Madrid, sondern von einem österreichischen Erzher- zog, der in seiner Person das römische Kaisertum und das spanische Königtum vereint hätte. Die Universal- monarchie Karls V. schien unter seinem gleichnamigen Nachfahren wieder neu zu erstehen. Grossbritannien und die Niederlande unterstützten zwar die reibungs- lose Regierungsübernahme Karls in Wien nach dem Tod seines Bruders und seine Wahl als Kaiser Karl VI. durch die Kurfürsten in Frankfurt am Main. Seit dem Tag, an dem die Nachricht vom unerwarteten Tod Josephs I. in London und Den Haag eintraf, wuchsen dort jedoch die Zweifel, ob die spanischen Ambitionen des Erzherzogs weiterhin unterstützt werden sollten, zumal seine Seite auf der iberischen Halbinsel militärisch deutlich unterle- gen blieb. Die bourbonische Partei konnte sich dort mili- tärisch durchsetzen. Der komplette Wandel aller Voraussetzungen durch den Tod einer zentralen Person eröffnete den Weg zu einem Kompromiss, der auf einem europäischen Frie- denskongress in Utrecht gefunden werden sollte – nicht zufällig in der Republik der Vereinigten Niederlande. Die Teilung des spanischen Erbes wurde zwischen den Seemächten und Frankreich vereinbart: Das spanische Hauptland und die Kolonien in Amerika und Asien gin- gen an den Bourbonen Philipp V., die südlichen Nie- derlande, Mailand und Neapel an den Habsburger. Dies wurde ohne die Teilnahme von Gesandten Karls VI. be- schlossen. Noch glaubte dieser, sich einer solchen Rege- lung durch die Grossmächte verweigern zu können. Im folgenden Jahr 1714 musste Karl jedoch auf einem Nach- folgekongress in Rastatt dem Utrechter Friedensschluss beitreten. Dieser wurde dann auch noch auf einem wei- teren Folgetreffen in Baden im Aargau in der Schweiz vom Heiligen Römischen Reich akzeptiert. Damit war der Utrechter Frieden ebenso wie sein Vorbild, der West- fälische Frieden, durch das europäische Völkerrecht und durch das Reichsrecht garantiert. Dies war nicht nur für die Stellung von Habsburgern und spanischen Bourbo- nen wichtig, sondern auch für andere europäische Staa- ten und deutsche Territorien: Die neuen Königswürden für Brandenburg-Preussen und Savoyen-Piemont, zwei 
und Truppen zu schützen. Dadurch wurden erneute französische Einfälle und Verwüstungen, wie sie im vo- rausgegangenen Pfälzer Krieg von 1689 bis 1697 erfolgt waren, verhindert. Der «Türkenlouis» war im Übrigen ein dem Haus Habsburg eng verbundener katholischer Reichsfürst, der über seine Ehefrau aus der in kaiserliche Dienste getretenen und konvertierten reichsfürstlichen Familie Sachsen-Lauenburg auch über Herrschaften in Böhmen verfügte. Joseph I. dachte bereits an eine nachhaltige Schwä- chung der bayerischen Wittelsbacher, gegenüber denen die österreichischen Habsburger eine jahrhundertelange dynastische und territoriale Rivalität als ihre Familientra- dition ererbt hatten. Eine österreichische Zwangsadmini- stration im besetzten München sollte eine Zerstückelung des kurbayerischen Territoriums einleiten. Dafür wur- den auch obsolet gewordene kaiserliche Rechte mobili- siert und die Stellung kleiner Reichsunmittelbarer sollte instrumentalisiert werden. Die fünfte Kurwürde und das Amt des Reichserztruchsessen, die während des Dreis- sigjährigen Kriegs von der Pfalz auf Bayern übertragen worden waren, sollten dem bayerischen Kurfürsten wie- der weggenommen und dem Pfälzer Johann Wilhelm, dem pfalz-neuburgischen Onkel Josephs I., überlassen werden. Eine machtvolle Rückkehr des Kaisers in das Reich – über das vom Vater Leopold I. hinaus Erreichte – schien für Joseph I. im Falle eines alliierten Siegs über Frankreich möglich. Auf den Schlachtfeldern – zumindest ausserhalb Spa- niens – deutete alles auf eine schwere Niederlage Frank- reichs hin. 1709 war Ludwig XIV. kurz davor aufzuge- ben, raffte sich jedoch angesichts der Masslosigkeit der alliierten Friedensbedingungen noch einmal zu einer militärischen Kraftanstrengung auf. Die erfolgreiche Be- hauptung seines Enkels Philipp V. im zentralen Spanien und der Zufall des Todes Kaiser Josephs I. wendeten dann 1711 das Blatt in entscheidender Weise. Die Waage des europäischen Gleichgewichts schlug jetzt in die an- dere Richtung aus. Auch wenn der Vordenker der Gleichgewichtspoli- tik, Wilhelm III. von Oranien-Nassau, bereits seit 1701 verstorben war, hatte sein Konzept die führenden eng- lischen Politiker unter seiner Nachfolgerin Königin Anna Stuart beziehungsweise Anna von Dänemark nachhaltig geprägt. England, das sich 1707 in Realunion mit Schott- land zum Vereinigten Königreich Grossbritannien neu Kapitel_2_Schindling.indd   5222.10.12   12:31
	        

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