Volltext: Jahrbuch (2012) (111)

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nationalsozialistischen Arier-Ideologie. Im 19. Jahrhun- dert war wenig Interesse an den Rätern vorhanden, dennoch gab es erste Deutungsversuche: Wer waren die Etrusker, die Kelten, die Illyrer? Wer war Rätus? Auch in den Vorarlberger Medien des 19. Jahrhunderts finden sich kaum Hinweise auf das Rätoromanische. Interessant ist aber die Erwähnung im Vorarlberger Volksblatt von 1892, dass die «welschen Buben» der in den 1830/1840er Jahren in den Feldkircher Fabriken beschäftigten Bünd- ner Familien in eigenen «Pampaluser»-Klassen unterrich- tet wurden. Von 1918 bis 1938 näherten sich einige Hi- storiker mit teils «deutschtümelndem Denken» oder gar « ‹bester› nationalsozialistischer Terminologie» (Adolf Helbok) dem Thema, und diese Ideologie (in der die Rä- ter ausgeblendet wurden) überlebte sogar den Zweiten Weltkrieg. In den 1960er Jahren wurde sie durch den von Benedikt Bilgeri formulierten Rätermythos abgelöst (1964); dieser sah sich (auch) als ein Beitrag zur Schaf- fung einer neuen Vorarlberger Identität. Alle bisherigen Ansätze wurden seit den 1980er Jahren schrittweise überwunden, und die Räterausstellung im Rätischen Museum 1992 trug, wie das Liechtensteiner Namenbuch, ihren Teil zur Erkenntnis bei, dass man eigentlich sehr wenig über die Räter weiss. Die Flurnamenforschung ist uneins in ihrer Festlegung auf eine bestimmte Ahnenga- lerie. Es scheint eine intensive Verschmelzung der Spra- chen «so oft und so gründlich» stattgefunden zu haben, dass Ausscheidungsversuche wohl zwecklos sind (Mon- tafoner Heimatbuch 1974). Ende des 16. Jahrhunderts war Vorarlberg noch zweisprachig, um 1700 starben die letzten rätoromanischen Sprecher. Der zweite Teil der Publikation behandelt die Gegen- wart des Rätoromanischen in Graubünden. Rico Franc Valär zeigt, so der Titel seines Beitrags, «Wie die Anerkennung des Rätoromanischen die Schweiz einte» und erläutert «Einige Hintergründe zur Volksabstimmung vom 20. Februar 1938» (Untertitel). Nach zwei Jahrzehnten aussenpolitischer (Irredenta) und innenpolitischer Spannungen (Landesstreik 1918; Sozia- lismus- und Kommunismus-Angst) stimmten damals 92 Prozent der Schweizer für die Anerkennung des Räto- romanischen als Nationalsprache. Die von faschistischen Bewegungen und Staaten in ihrer Einheit gefährdete Wil- lensnation Schweiz brauchte einen neuen Kleister. Um 1850 galt das Romanische vielfach (auch unter Romanen) 
als Hindernis auf dem Weg zum industriellen und touris- tischen Fortschritt, und sein Verschwinden wurde viel- fach gewünscht und herbeigesehnt. Ein akademisches Aggiornamento ab den 1870/1880er Jahren, die Rena- schientscha retorumantscha, konnte dieses Unheil ver- hindern: «Ni Talians ni Tudaischs, Rumantschs vulains restar!», lautete die Devise, auf Deutsch: «Weder Italiener noch Deutsche, sondern Romanen wollen wir bleiben!» Die Gründung der rätoromanischen Sprachvereine mit der Lia Rumantscha als Dachorganisation (1919) und die Schaffung vielfältiger Periodika und Literatur sollten dies auch für die Zukunft sicherstellen. Diese sprach- fördernden Massnahmen und die Verbindung mit der bürgerlich-konservativen Heimatbewegung nach 1910 und mit der geistigen Landesverteidigung der 1930er Jahre machten den Entscheid von 1938 möglich – und der wachsende aussenpolitische Druck auf die Schweiz machten ihn notwendig. Die Pointe: Das bisher national missachtete Mauerblümchen von ehemals wurde für die geistige Landesverteidigung instrumentalisiert (Landes- ausstellung 1939 in Zürich), das Rätoromanische als Ver- körperung der Schweizer Werte und echten Schweizer Geistes mystifiziert. Der Beitrag von Anna-Alice Dazzi erläutert «Die ver- schiedenen Aktivitäten der Lia Rumantscha zur Erhal- tung und Förderung des Rätoromanischen» (Titel). Sie präsentiert die involvierten Institutionen (Dicziunari Rumantsch Grischun/DRG, Radio Televisiun/rtr, Regio- nalvereine etc.), zeichnet deren Entwicklung und Ak- zentsetzungen nach bis hin zum Strategiewechsel der Lia Rumantscha mit der Koine11 
Rumantsch Grischun (1982) als zentralem Anliegen. Wichtige Schritte folgten: Die Anerkennung des Rätoromanischen als Teilamtssprache des Bundes 1996, das Erscheinen der Tageszeitung La Quotidiana ab 1997, das «Projekt Convivenza» zur För- derung der Mehrsprachigkeit und sprachlichen Koope- ration mit den Deutsch und Italienisch Sprechenden und der Ausbau der Ressorts Linguistica applichada, Scola e furmaziun, Art e cultura und Ediziuns innerhalb der Lia Rumantscha. Zum Abschluss beschäftigt sich Bernard Cathomas, der ehemalige Sekretär der Lia Rumantscha und Ru- mantsch Grischun-Sprachplaner der ersten Stunde unter dem Titel «Sprachen fallen nicht vom Himmel» mit der «Sprachplanung in der Rätoromania». Dieser vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Retrobewegung zu den Kapitel_10_Rezensionen.indd   23222.10.12   13:00
	        

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